Reportage 14: Donnerstag, 24. November

 Eigentlich wollte ich meine Maler-Kollegin am letzten Donnerstag an ihrem neuen Arbeitsplatz als Geschäftsführerin im Schuhhaus Walder kurz besuchen, ihr einen guten Tag wünschen. Ich hatte es schlicht und einfach vergessen
Wahrscheinlich musste ich es vergessen, um heute die Stippvisite zu machen, denn als ich den Laden betrat, bediente meine Kollegin Elisabeth eine Kundin, die schon den ganzen Morgen eine tolle Marken-Winterjacke in einer Tragetasche mit sich herumtrug, die sie loswerden wollte. Die Jacke war ihr zu groß. Nirgends fand sie eine Institution, wo sie das gute, fast neue Stück hätte abgeben können.
Ich erzählte ihr vom Chrischtehüsli. Verließ wenig später den Laden mit der Beute.

Rasch lief ich zur Bahnhofstraße, glotzte die neue Weihnachtsdekoration eine Weile an, machte kehrt, schaute kurz im Park vorbei, wo ein einsamer Mann die dünnen Äste eines Strauches brach und mit dem grünen Holz ätzenden Qualm in der Feuerstelle produzierte.
In der guten Stube angelangt, zeigte ich dem Tagesleiter Florian, was ich mitgebracht hatte. Versonnen sagte Florian, er habe einem Drögeler eine Jacke versprochen, wusste bis jetzt nur nicht, woher nehmen … Der Junkie lief bei dieser Affenkälte in einem zerschlissenen Gilet über dem dünnen Pullover herum.
Die Ärmel der Jacke waren ein wenig zu kurz für den hoch gewachsenen, schmalen Typ, aber sonst passte sie ihm perfekt.
Zufall, dass ich die Jacke ergatterte, die ihm sozusagen zu-fallen musste.

Nach dem feinen Mittagsmahl, das wir zu dritt gekocht hatten, wurde es ruhig in unserer Großfamilienstube.
Die Leute hatten ihre Rente bekommen.
Trotzdem kamen einige Besucher rasch auf einen Kaffe und ein Stück Kuchen.
Tanja stürzte herein. Das zarte Gesicht der kleinen, sehr schmalen jungen Frau wirkte durchsichtig. Fast hätte ich sie nicht erkannt. Einen Flügelschlag lang ruhte ihr unsteter Blick in meinem, löste in mir Betroffenheit aus. Mit einer fahrigen Geste strich sie ihr mattes, strähniges Haar zurück, verlangte Sirup. Gierig löschte sie ihren gewaltigen Durst, und schon war sie wieder auf der Gasse.
Tanja kam mir vor wie eine Tochter, die sich kurz bei ihrer Familie blicken lässt, eigentlich reden möchte, es dann aber doch nicht tut. Der flüchtige Kontakt hat ihr einen Energieschub verliehen, der sie erneut in die fragwürdige Freiheit zurücktreibt.

Heute erfuhr ich von Florian, dass er selber noch vor fünf Jahren arg in der Tinte saß. Erst als er einen tiefen Glauben an Gott und seinen Sohn entwickelte, schaffte er den Ausstieg aus dem Drogenpfuhl. Er lud seinen mit Sünden beladenen Rucksack auf die starken Schultern des Erlösers ab und vertraute auf seine Hilfe. Florian glaubt daran, dass Gott ihn schützt und lenkt. Er hat für sich einen gangbaren Weg gefunden, den er gehen muss.
Glaubt ein Mensch an sich selber und nicht an Gott, verstößt er nicht gegen die schöpferischen Gesetze und Gebote, wenn er konsequent seinen Weg im Guten geht. Für Florian ist diese Ansicht nicht nachvollziehbar. Trotzdem ist es möglich, uns gegenseitig zu respektieren. Unsere Verschiedenartigkeit ist kein Hindernis, in unserer Aufgabe, den Süchtigen zu helfen, am gleichen Strang zu ziehen.
Nach Feierabend wanderte ich durch den Park. Hell brannte das Feuer. Bier wurde angeschleppt. Viele Gestalten standen schwatzend um die in den kalten Nachthimmel lodernden Flammen.


Jimmy Hendrix mit seiner brennenden Gitarre
Acryl

Zügig strebte ich der Bahnhofstraße zu. Die so genannte Weihnachtsbeleuchtung funktionierte. Die riesige Leuchtröhrenwand zwischen den Häuserreihen wirkte auf mich nicht feierlich.
Das Lied »Stille Nacht, heilige Nacht« müsste durch Techno-Sound ersetzt werden, um dem modernen Design gerecht zu werden.
Finde ich.
Ist das der Fortschritt den wir uns wünschen?
Wie romantisch sind doch die filigran wirkenden Girlanden in den Bäumen und an den Fassaden der Häuser in den Nebenstraßen. Diese Lichtfunken regen zum Träumen an. Es ist, als ob die Sterne aus dem All für die Weihnachtszeit zu uns heruntergeholt worden wären.

Ich wünsche dir, liebe Leserin, lieber Leser, eine besinnliche Vorweihnachtszeit.
Roswitha


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