Die roten Socken
Von Roswitha Wegmann©
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Auf dem Bahnsteig in Greben war es grausig kalt, laut und ungemütlich. Menschen liefen nervös umher oder warteten mit hochgezogenen Schultern, traten von einem Fuß auf den anderen. Verbiesterte Gesichter neben geduldig-ausdruckslosen wurden von mir im Vorbeieilen wahrgenommen. Die einen hatten die Hände tief in den Taschen vergraben, andere hauchten ihren Atem an die klammen Finger.
Ein junger Mann in Hochwasserschlabberjeans watschelte an mir vorbei. Für mein Empfinden sah er aus, als hätte er soeben in die Hosen geschissen, so tief hing der Schritt. Seine Frisur sah zum Kugeln aus. Verfilzte Zapfenlöckchen wippten bei jeder Bewegung in allen Himmelsrichtungen um seinen Kopf. Mir kam das Gorgonenhaupt aus der griechischen Sage in den Sinn. Vielleicht gleicht er eher einem Schaf, sinnierte ich.
Diese Frisur schien momentan in zu sein, denn auch in Bodern liefen etliche Jungs und Mädchen so herum. Einen von diesen Typen sah ich seit Kurzem fast täglich an der Vulkangasse. Er trug nicht so weite, modische Klamotten, dafür hatte er immer rote Socken an. Ich gewann den Eindruck, dass der Junge unter großen seelischen Schwankungen litt, denn an einem Tag wirkte er fröhlich, am anderen verkrampft und gehetzt. Vielleicht bildete ich mir alles nur ein, weil ich selber eine Identitätskrise durchmachte und sehr launisch war.
Zähneklappernd hörte ich undefinierbare Ansagen aus dem Bahnhoflautsprecher durch den Krach des einrollenden Zuges. Nachdem die Ankömmlinge ausgestiegen waren, sprang ich die Stufen hoch, fand gleich neben der Schiebetür ein paar freie Plätze. Ich zog die Jacke aus und setzte mich ans Fenster.
Bei meinen Eltern, die in Greben ein großes Verlagshaus führten, hatte ich meine seelischen Wunden geleckt. Drei Jahre war ich verheiratet, als mein Mann und meine beste Freundin Cora mich schmählich im Stich ließen. Auf einmal war ich meinem Mann zu fad. Und Cora war schwanger.
Mir bläute er ein, es sei noch zu früh für ein Kind.
Vor vier Jahren lernten Cora und ich an einer Party Guido und Erwin Zappa kennen. Zwei dynamische Männer, nicht zu jung und nicht zu alt. Die Brüder besaßen in Greben und Bodern eine ansehnliche Anzahl Kiosks, deren Leitung und Überwachung viel Zeit in Anspruch nahm, wie sie uns wissen ließen. Hals über Kopf verliebte ich mich in den blendend aussehenden Guido und Cora verguckte sich in Erwin. Meinen Eltern wäre es lieber gewesen, hätte ich meinen Beruf als ausgebildete Lektorin nicht an den Nagel gehängt, aber mir machte der Kioskbetrieb viel Spaß. Sofort stimmte ich zu, mit meiner Freundin zusammen an der Vulkangasse 7 in Bodern einen neuen Kiosk zu eröffnen. Das Geschäft lief innert kürzester Zeit hervorragend. Cora und ich verstanden uns blendend.
Wir lebten zu viert in Guidos wunderschönen, großen Einfamilienhaus mit Garten in Nottingen bei Bodern. Schon träumten wir von einer Doppelhochzeit, doch Erwin, der Lebemann, hatte anderes im Sinn. Im Endeffekt war Cora froh, als er sich nach Greben verkrümelte, wo noch andere Bräute auf ihn warteten. Guido und ich heirateten und ich war im siebten Himmel.
Unser Dreigespann funktionierte fantastisch, bis ich Guido und Cora eines Tages in flagranti erwischte. In unserem Ehebett. Naiv wie ich war, bemerkte ich bis dahin nicht, dass mein Vertrauen missbraucht wurde und sie es schon seit zwei Jahren hinter meinem Rücken trieben. Mein Stolz war aufs Tiefste verletzt. Aus Trotz willigte ich nicht in die Scheidung ein. Anstatt kühlen Kopf zu bewahren, warf ich aber trotzdem widerstandslos das Handtuch, flüchtete aus meinem Heim, in dem ich offenbar ein fragwürdiges Glück genossen hatte.
Mit offenen Armen nahmen mich die Schwestern Carmen und Isolde auf, die im selben Haus wohnten, wo mein Kiosk war. Isolde erging es ähnlich wie mir, nur war sie zwanzig Jahre verheiratet gewesen, als sie vor fünf Jahren die Scheidung hinter sich brachte. Sie war mit dem rüstigen Rentner Omar befreundet, der auch an der Vulkangasse wohnte. Carmens Mann starb vor wenigen Monaten mit achtundvierzig an einem Herzinfarkt. Bei den beiden Frauen durfte ich mich hemmungslos ausheulen, fand viel Verständnis. Eine Weile war es ganz schön, bemuttert zu werden, aber allmählich ging mir die Fürsorge und Kontrolle auf die Nerven. Mein Alkoholkonsum sei eindeutig zu hoch, wurde mir andauernd unter die Nase gerieben, Guido sei es nicht wert, sich seinetwegen die Gesundheit zu ruinieren. Einige Wochen wohnte ich im Gästezimmer, bis im ersten Stock des Hauses ein Zweizimmerappartement frei wurde.
Die beiden Frauen arbeiteten von Anfang an in meinem Kiosk und nun, da Cora ausfiel, stieg Omar auch voll ein, war nicht mehr nur Aushilfe. In dieser Beziehung hatte ich Glück. Auf die Schwestern und Isoldes Freund war Verlass.
Schaudernd zog ich die Schultern hoch, stellte fest, dass der Zug in den Bodener Bahnhof einfuhr. Mit einem energischen Ruck erhob ich mich, streifte die Jacke über und sprang Sekunden später auf den Bahnsteig. Zügig marschierte ich durch die Bahnhofshalle, lenkte meine Schritte zielstrebig der Altstadt zu. Es kam mir vor, als ob um den Kern der Stadt Bodern herum mit der Zeit eine künstliche, neue Welt erschaffen worden war. Die modernen Bauten an der langen Bahnhofstraße standen in so krassem Gegensatz zu den uralten Häusern im Zentrum, dass mir jedes Mal ein kalter Schauer über den Rücken lief, wenn ich von der geruhsamen Atmosphäre der Fußgängerzone in die Schatten der bis in den Himmel reichenden Beton- und Glasbauten trat. Zugleich brandete der Lärm energisch bimmelnder Trams, vermischt mit nervösem Gehupte ungeduldiger Autofahrer und schriller Musik aus den Spielsalons auf. Hektisch blinkende Leuchtreklamen, eine verrückter als die andere, lockten unternehmungslustige Menschen an. Ich kam an der Wildcat Bar vorbei, wich ein paar leicht bekleideten Dämchen aus, die vor dem Stripperlokal Blue Moon an der Ecke zur Vulkangasse herumscharwenzelten. Montags war nicht viel los, die Freier erholten sich vom stressigen Wochenende.
In zwei Minuten wäre ich zu Hause gewesen, wo mich die Einsamkeit erwartete … Wenig später erreichte ich die Rebgasse und betrat die Roxy Bar. Beobachtend blieb ich einen Moment an der Garderobe stehen, hängte die Jacke an den Haken. Der eiserne Kern der Stammkundschaft hielt dem Barkeeper Charly auch an flauen Tagen die Treue. Wie Gockel auf der Stange saßen die Kumpels auf den Barhockern, vorgebeugt, mit Charly flachsend. Der Junge mit der Schafpelzfrisur, der neuerdings an der Vulkangasse herumgeisterte, war auch da. Neben ihm stand eine Frau, die ich noch nie gesehen hatte. Zwischen ihr und den anderen Gästen war noch ein Hocker frei. Während ich auf die Theke zuging, stellte ich amüsiert fest, dass die Fremdlinge beide rote Socken und im Stil sehr ähnliche, kunstvoll gestrickte Pullover trugen. Die Frau war einen halben Kopf größer als ich, hatte die Haare im Nacken zusammengebunden und zu einem Zopf geflochten. Das schräg aufgesetzte Béret verlieh ihr ein verwegenes Aussehen, sehr passend zu ihrer sportlichen Erscheinung.
Überschwänglich begrüßte mich Charly, und sofort wurde ich in das laufende Gespräch mit einbezogen, das allerdings wenig geistreich war. Das Gequatsche ödete mich bald an. Ich legte meine Tasche auf den freien Hocker und stellte mich, wie die Frau links neben mir, an die Theke.
»Ist das nicht grausig aufwändig, die Mähne so stylen zu lassen?«, hörte ich sie fragen.
»Hehe, stimmt schon«, grinste er und verdrehte die Augen, »aber wenn’s mal gemacht ist, hält das eine halbe Ewigkeit.«
»Das Moos passt perfekt zu dir. So, ich muss gehen.«
»Ach nein! Komm, Schwester, ich spendiere dir einen Drink.«
»Nein danke, Brüderchen, ein anderes Mal vielleicht.«
Sie machte einen Schritt zurück und trat mir voll auf die Zehen. Erschreckt schrie ich auf.
Blitzartig drehte sie sich zu mir und sagte zerknirscht: »Das wollte ich nicht, tut mir Leid, Honey! Tut es sehr weh?«
Als sie mich so anschaute, befiel mich ein sonderbares Gefühl. Völlig verdattert schüttelte ich den Kopf, starrte wie hypnotisiert in das dunkle, um Verzeihung heischende Augenpaar. Endlich löste sich meine Zunge.
»Nichts passiert, keine Sorge.«
Sie schenkte mir ein bezauberndes Lächeln, berührte mich leicht mit dem Handrücken an der Wange, wandte sich ab und verließ das Lokal.
»Eine tolle Schwester haben Sie«, sagte ich mit belegter Stimme zu dem Burschen.
»Ähm, ja, ne coole Braut ist das! Schade, dass sie’s so eilig hatte.«
»Woher habt ihr die schönen Pullover und die roten Socken?«
Er beugte sich zu mir, sagte verschwörerisch: »Boutique Madeleine. Flossenwärmer und Pullis en masse und noch ganz andere Bijous sind da zu finden. Ts, Ts, so blind kann doch keiner sein, das glaub ich einfach nicht, wo doch ein paar Häuser weiter so ein Kiosk ist, der meines Wissens einer gewissen Frau Zappa gehört …«
Sein Grinsen erinnerte mich an einen satt gefressenen, schnurrenden Kater, den nichts aus der Ruhe bringt. Heute war er in blendender Verfassung, nichts erinnerte an den manchmal so gehetzt wirkenden Jungen, der er hin und wieder zu sein schien. Da hatte er mir schön eins auf den Deckel gegeben! Dass an der Vulkangasse 1 vor ein paar Wochen eine Boutique eröffnet wurde, war nur ganz am Rande in mein Bewusstsein gedrungen; ich hatte andere Sorgen, scherte mich einen Dreck um die Nachbarschaft.
»Du hast Recht oh, Entschuldigung …«
»Macht nichts, das Du liegt mir sowieso besser. Sag einfach Rotsock zu mir, Angel-Baby. Ich mach mich dann auch vom Acker, tschüss.«
So ein Frechdachs! Charly nannte mich immer so, das hatte er natürlich gehört. Lachend winkte ich ihm nach und bestellte noch einen Red Label. Seine Schwester hatte ich noch nie gesehen, da war ich mir absolut sicher. Dieses Gesicht mit unverkennbar eurasischen Zügen und die einzigartige Stimme hätte ich nicht vergessen. Sie wäre mir aufgefallen, unter allen Umständen. Der Schlaumeier mit den dunklen Haarwürstchen und den schelmisch blitzenden Schlitzaugen brachte mich ins Grübeln. Abgeschottet von der Umwelt vergrub ich mich in mein Selbstmitleid. Wie eine Schlafwandlerin erledigte ich meine Arbeit, fand alles zum Kotzen.
Weshalb eigentlich?
Fortsetzung >>>>
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