Zwei Stunden Schlaf gönnten sich die Kommissare, machten sich früh am Dienstagmorgen auf die Suche nach ihrem Informanten, stießen jedoch bei seinen Bekannten auf eine Mauer des Schweigens. Die Angst vor den Schergen, die einigen Kumpels bereits in der Nacht hart zusetzten, verschloss ihre Lippen.
Inzwischen wusste Gzime, dass der Tote Angelas Schwager war. Ihr Mann Guido Zappa wurde Dienstagnachmittag in U-Haft genommen. Er reagierte völlig verstört auf den Tod seines Bruders und verwickelte sich in Widersprüche. Seine Freundin Cora konnte nicht vernommen werden, sie sei verreist, erklärte Zappa.
Am Mittwoch machte Kripochef Schläpfer seinen Kommissaren Berisha und Stoller Dampf unter dem Hintern.
»Wir müssen verhindern, dass noch mehr Junkies vermöbelt oder gar totgeschlagen werden. Ein paar Kids sind in Spitalpflege, so brutal wurden sie befragt. Treibt endlich Bodo auf, er ist unser einziger Zeuge in diesem brisanten Fall!«
Der Boss hatte Recht, ein Wettlauf mit der Zeit hatte begonnen. Berisha und Stoller wechselten die Kleider im Revier, passten sich dem Bodener Kiez an, durch den sie wenig später schlenderten. Tagsüber gehörte die Bahnhofstraße sowie das Vulkan-Gasse-Viertel den Normalbürgern zum unbekümmerten Shopping, abends den Dirnen und Freiern. Im vom Wind geschützten Eingang der Wildcat Bar knutschte ein bekifftes Pärchen, das Kevin kannte.
Es brauchte Geduld, bis sich das Mädchen kurz von den Lippen ihres Lovers trennte und knurrte: »Bahnhof vielleicht.«
Grinsend legte Kevin den Arm um Gzime, trottete mit ihr davon. Nach einigen Schritten legten sie einen Spurt ein, um Zeit zu gewinnen. In der zugigen Bahnhofshalle hielten sich wenige Menschen auf, die Lage war übersichtlich. Am Stand eines Kiosks erspähten sie zwei elegant gekleidete Männer aus der Bodener Schickeria; Bodyguards der ehrenwerten Herren der Drogenmafia.
»Mann. Kevin, den rechts kenne ich, er darf mich nicht sehen. Der Lackaffe sülzte mir am Empfang letzte Woche bei den von Grünigens die Ohren voll. Er heißt Heiri Ehrsam, den anderen sah ich noch nie.«
»Der Bodyguard des Obermuftis war dort dabei? Du hattest das Glitzerkleid an, bei dem oben schwer an Stoff gespart wurde, ich erinnere mich. In deiner heutigen Verpackung erkennt er dich garantiert nicht«, grinste Kevin schamlos.
»Freche Wanze«, gab Gzime zurück. »Ich fresse einen Besen, wenn die nicht auch hinter unserem Bodo her sind. Sie verkrümeln sich.«

Der Informant hatte viele Anlaufstellen, war dauernd unterwegs. War er im Park hinter dem Bahnhof, unten in der U-Bahnstation oder vielleicht bei den Pennern unter der Krattbrücke? Sie entschlossen sich, die verschiedenen Plätze im Eiltempo durchzuchecken und nicht einfach den beiden Herren zu folgen. Im Untergrund lag und hockte eine Clique in der Nähe der Toiletten zusammen. Vor zehn Minuten sei Bodo noch hier gewesen, hieß es, doch was die Beurteilung der Zeitspanne anging, durften es die Kommissare nicht wörtlich nehmen. Vielleicht war er eben erst gegangen oder schon viel länger fort. Berisha und Stoller hetzten die Treppen hoch, warfen einen Blick in den Park. Hier war gar nichts los. Es hatte zu regnen begonnen. Also auf zur Krattbrücke. Die harten Trainings im Dojo zahlten sich aus, sie brachten die rund fünfhundert Meter in Rekordzeit hinter sich.
»Verdammte Scheiße, sie haben Bodo im Clinch! Warum haben wir nicht hier zuerst nachgeschaut, verflucht noch mal!«
»Warum, warum – komm, Kevin, retten wir, was noch zu retten ist.«
Unter der Krattbrücke war eine Schlägerei im Gange. Die armen Schlucker wollten Bodo helfen, wurden aber gnadenlos zur Seite gefegt. Was konnten die geschwächten Menschen schon gegen diese Muskelpakete ausrichten. Noch etwa zwanzig Meter trennten sie von den bösen Buben, die den Informanten in der Mangel hatten. Sie waren so beschäftigt, dass Gzime und Kevin unbemerkt bis auf Tuchfühlung herankamen. Mit einem Morote-Gari fegte Stoller den einen von den Füßen, hechtete ihm nach. Den anderen legte Gzime mit einem O-Soto-Guruma flach, setzte einen Ude-Hishigi-Hara-Gatame an. Um sich Gelegenheit  zu verschaffen, die Handschellen zu angeln, kugelte sie dem Überrumpelten beinahe den Arm aus. Der größte Fehler wäre gewesen, den Kerl zu unterschätzen.
Die Bodyguards waren auch im Kampfsport geübt, und Stoller hatte mit dem größeren Brocken erhebliche Schwierigkeiten. Sein Gegner wand sich aus dem Griff und wurde selber aktiv. Ein Handkantenschlag setzte den Kommissar für einen Moment außer Gefecht, und schon war eine Waffe auf ihn gerichtet.
»Nimm meinem Kollegen die Fesseln ab, oder Stoller ist futsch«, zischte er, verzog die schmalen Lippen zu einem kalten Lächeln. »Im Abendkleid hast du mir wesentlich besser gefallen, Frau Kommissärin
Einen Moment später waren die Rollen neu verteilt. In ohnmächtiger Wut mussten Gzime und Kevin die beiden Verbrecher ziehen lassen. Die Situation war beschämend. Ihre Arme waren mit den eigenen Handschellen auf dem Rücken gefesselt. Bodo lag neben ihnen zusammengekrümmt am Boden. Die Penner näherten sich von allen Seiten. Eine junge Frau in abgerissener Kleidung trat forsch vor, griff Stoller in die Tasche, grübelte den Schlüssel hervor und befreite die beiden wortlos aus ihrer misslichen Lage. Mit leerem Blick nahm sie den Dank entgegen, wandte sich ab und ging zu den anderen, die belämmert herumstanden.

Langsam hob Bodo sein blutverschmiertes Gesicht, grummelte: »Sind sie weg?«
»Ja. Wie fühlst du dich?«, fragte Gzime besorgt.
»Meine Nase ist gebrochen, der Mistkerl hat voll draufgehauen. Zu dumm, seid ihr nicht fünf Minuten früher gekommen … Die wussten, dass ich den Täter gesehen habe, der dem Drogenmufti die Waffe über die Rübe zog. Ich wurde verpetzt. Sie hätten mich mitgenommen und anderswo weiter behandelt, hättet ihr nicht dazwischengefunkt.«
»Kevin hat schon den Krankenwagen gerufen. Bis er da ist, erzählst du mir, was Sache ist. Da es sich um Totschlag oder gar Mord handelt, sind wir zuständig. Sag, was du weißt, bitte.«
Gzime reichte dem armen Kerl ein sauberes Taschentuch. Bodo sah zum Fürchten aus. Vorsichtig tupfte er das Blut von der geplatzten Oberlippe, berührte die Nase und gab einen wimmernden Laut von sich. Trotz der Schmerzen erstattete er nuschelnd Bericht. Seine Freundin hockte mit ein paar Kumpels im Gebäude der still gelegten Fabrik zusammen. Er war auf dem Weg dorthin, als er auf dem Gelände die Abwicklung eines Geschäfts beobachtete. Vier Typen waren daran beteiligt. Drei von ihnen fuhren weg, der vierte Mann nahm sich Zeit, öffnete den Wagenschlag, legte etwas auf den Beifahrersitz, dann ordnete er gemächlich seine Sachen im Kofferraum. Plötzlich tauchte jemand auf und sprach ihn an. Im schwachen Schein der Innenbeleuchtung des Autos erkannte Bodo Rotsock, der lauthals um Stoff bettelte. Er war voll auf Turkey, seine Nerven lagen blank. Der Mann wollte Cash sehen, womit Rotsock nicht dienen konnte. Der Junge rastete aus, sprang ihm an die Gurgel. Der Typ zog die Waffe aus dem Halfter. Es gab ein Gerangel, wobei es Rotsock gelang, die Waffe an sich zu bringen. Anstatt zu schießen, packte er sie am Lauf und knallte dem Mann das schwere Eisen auf den Kopf. Sogleich ging der Drogenhändler zu Boden und Rotsock raubte den Wagen aus. Als er flüchtete, lief er Bodo direkt in die Arme.
»Vermassle mir ja nicht die Tour, Bodo«, keuchte er, »ich habe jetzt keine Sorgen mehr, denen habe ich ein Schnippchen geschlagen!«
»Die stöbern dich auf, verlass dich drauf – und dann gute Nacht …«
»Ich bin doch nicht blöd! Wo ich jetzt hingehe, vermutet mich keiner, da kannst du Gift drauf nehmen. Ich habe Geld erwischt, viel Geld – und Stoff, viel Stoff! Da, nimm«, Rotsock steckte Bodo ein paar Briefchen zu, »du sollst auch nicht leer ausgehen.«
Während Bodo erzählte, gingen die Kommissare, den Verletzten von beiden Seiten stützend, die Treppe zur Brückenrampe hoch, wo in diesem Moment der Krankenwagen anhielt.
»Bist du sicher, dass es Rotsock war?«, fragte Gzime.
»Aber ja doch! Als er weg war, ging ich zu dem Mann hin, der am Boden lag. Ich wollte ihm helfen, aber er lebte nicht mehr. Ich scheuchte meine Kumpels auf, verduftete mit ihnen und rief euch an. Später traf ich den Reporter, gab ihm für einen Hunderter den Tipp, mal auf das Areal zu gehen, wo ein Mufti das Zeitliche segnete.«
»Hast du eine Ahnung, wo Rotsock sich versteckt haben könnte?«, wollte Stoller wissen.
Kopfschüttelnd ließ sich der Verletzte von den Sanitätern in den Krankenwagen führen. Zwei Minuten später standen die Kommissare ratlos auf der Krattbrücke, schauten dem Rettungswagen nach. Das einzig Beruhigende war, dass die Gangster nicht mehr wussten als sie selber. Es hatte aufgehört zu regnen. Die Wolkendecke riss auf, machte da und dort einem reinen Blau Platz, was die Weite des Himmels erahnen ließ. Sie lehnten sich ans Geländer, genossen den Anblick der dahinjagenden Wolken, deren Formen sich, die Fantasie anregend, dauernd veränderten. Seufzend lösten sie sich aus der beginnenden Tagträumerei, beiden knurrte der Magen. Es war schon 13 Uhr. An einem Imbissstand genehmigten sie sich eine heiße Bratwurst, die sie in bedrückender Schweigsamkeit verzehrten. Die eingefangene Schlappe schlug ihnen empfindlich aufs Gemüt.
Greg, der Fahnder, gesellte sich zu den Kommissaren, riss sie aus ihren trüben Gedanken. »Hallo, eure Tarnung ist zwar nicht schlecht, aber es riecht trotzdem nach Bullen«, grinste er und merkte rasch, dass den beiden nicht ums Scherzen war. »Habe soeben vernommen, was unter der Krattbrücke los war. Dumm gelaufen. Schade, hat die Frau vom Kiosk den Jungen, der sie am Clupfsteig attackierte, nicht identifizieren können. Ich tippe bei all den Überfällen auf Rotsock, aber er war der Einzige von den fünf Schafköpfen, der ein einwandfreies Alibi hatte. Die anderen vier mussten wir auch laufen lassen, obwohl keiner so recht wusste, wo er zur fraglichen Zeit gewesen war.«
»Wir wissen, dass Rotsock den Mufti niedergeschlagen und beraubt hat«, brummte Stoller, »und jetzt geht es ihm an den Kragen, wenn wir ihn nicht vor den anderen finden.«
»Seine Mutter steht voll hinter ihm, sagt, er sei ein cleverer Junge, der es nicht nötig habe, krumme Dinger zu drehen«, sagte Greg, »aber jetzt ist Mamas Liebling zu weit gegangen.«
»Wo finden wir die Mutter, die so stolz auf ihren Bengel ist?«
»Das weißt du nicht, Kevin? Vulkangasse eins, Parterre. Seht euch vor, mit der Dame ist nicht gut Kirschen essen. Seit sie die Boutique betreibt, sitzt sie auf dem hohen Ross.«
»Madeleine Schwitzgebel ist Rotsocks Mutter?« Überrascht beugte sich Gzime vor. »Greg, würde sie ihren Sohn verstecken?«
Nachdenklich runzelte der Fahnder die Stirn. »Der traue ich alles zu. Letzte Woche wollte ich einen Durchsuchungsbefehl für ihre Wohnung erwirken. Der Verdacht sei zu vage, hieß es. Wenn sie den Lümmel tatsächlich versteckt, setzt sie sich ganz schön in die Nesseln.«
»Das kannst du laut sagen, Greg«, nickte Kevin. »Es wird vermutet, dass ein weit höherer Betrag in der Aktentasche war, als anfänglich angenommen. Dazu kommt etwa ein Kilo Heroin, das er eingesackt hat. Die Schwitzgebel wird doch nicht so dumm sein, sich mit den Drogenhändlern anzulegen.«
»Gzime, Kevin, findet es heraus, es ist jetzt euer Fall! Viel Erfolg, ich muss weiter.«

    Fortsetzung –––>>>