Die schallende Ohrfeige ernüchterte mich. Mir wurde schlagartig klar, dass ich Heiri Ehrsam bei einer Schweinerei dazwischenfunkte. Was ging hier vor? Ich erhaschte einen Blick in Madeleine Schwitzgebels Wohnzimmer, das aussah, als hätte ein Tornado darin gewütet. Ein Mann wühlte in den Sachen, schaute kurz auf. Ehrsam winkte ab, stieß mich weiter voran. Sekunden später stand ich in einem Raum, in dem eine einseitige Schlägerei stattfand.
Es war Gzimes Bruder Rotsock, der windelweich geprügelt wurde!
»Und?«, blaffte Ehrsam.
»Das Arschloch behauptet, von nichts zu wissen. Soll ich …?«
»Warte noch.«
»Was ist mit der da, macht die wenigstens das Maul auf?«
»Das ist Erwins Schwägerin. Sie platzte zufällig herein, hat zu viel mitbekommen.«
Siedendheiß fuhr mir die Erkenntnis in die Glieder, dass ich nicht ungeschoren davon kommen würde. Ehrsam forderte mich auf, Rotsock das Versteck des Geldes zu entlocken. Wenn mir das gelinge, passiere mir nichts, wenn ich über die Vorkommnisse in dieser Wohnung den Mund halte, sagte er einschmeichelnd.
»Ich kann veranlassen, dass dein Mann noch heute aus der U-Haft entlassen wird«, köderte er mich zusätzlich.
»Guido ist verhaftet worden?«, rief ich entsetzt.
»Rotsock hat deinen Schwager ermordet, ihm hunderttausend Franken und eine Menge Stoff abgenommen. Dein Mann hat sich in Widersprüche verwickelt, was seinen Bruder angeht, also hat man ihn eingekapselt.« Als ich nur fassungslos den Kopf schüttelte, setzte er hinzu: »Dein Schwager Erwin hat mit Rauschgifthandel gute Kohle gemacht und dein Mann hielt ihm notfalls den Rücken frei. Es wird Zeit, dass du auf die Welt kommst, Angela. Bring den Affen zum Reden, sonst fliegt heute Nacht dein Kiosk in die Luft!«
Völlig entgeistert starrte ich Rotsock an, der mit verrenkten Gliedern vor meinen Füßen lag. Er weinte. Ich schob einen Lederhocker zu ihm hin, an den er sich anlehnen konnte und kauerte mich zu ihm nieder. Um sein linkes Auge prangt morgen ein riesiges Veilchen, und essen wird er auch nicht können, dachte ich. Er hat mich überfallen. Ich habe Glück gehabt, dass er das Messer in die Tasche und nicht in meine Brust gerammt hat. Beim Anblick des Häufchens Elend regte sich trotz allem ein Funken Mitleid in mir. Ich gab mir redlich Mühe, Rotsock zum Reden zu bringen, um meine Haut zu retten. Allmählich glaubte ich seinen Beteuerungen, nicht zu wissen, wo die Beute abgeblieben war. Aus seiner Mutter hatten die Ganoven anscheinend auch nichts herausbekommen, sonst läge sie nicht wie ein Braten verschnürt im Wohnzimmer.
Wutentbrannt nahmen sich die Gangster das wunderschöne Atelier vor. An einer Wand standen Gestelle, die bis zur Decke mit farblich fein abgestuften Wollknäueln gefüllt waren. Gerade flogen blau getönte durch die Luft; die Farben meines Pullovers, den ich in der Boutique kaufte. Bald hatte ich den Eindruck, ein Regenbogen fege an meiner Nase vorbei, sammle sich kunterbunt zu einem farbenprächtigen See auf dem Teppich. Der Tisch wurde leer gefegt. Stricknadeln schossen wie Pfeile durch die Luft, prallten an die Wand, fielen klirrend zu Boden. Wenn ich die Augen schloss, tönte es wie das Klappern einer emsigen Strickerin, die ganz in ihre Arbeit vertieft ist. Mit entseeltem Blick starrte Rotsock die Breitseite  des Zimmers an, an der einzigartige Modelle und Entwürfe dekorativ an der Wand angebracht waren. Alles wurde heruntergerissen. Mein Herz hämmerte wild, Angst schnürte mir die Kehle zu. Ein ausgeschüttelter Ordner knallte an meinen Kopf, blieb offen in meinem Schoß liegen. Verschwommen nahm ich geheimnisvolle Zeichen und Maschenzahlberechnungen mit einer Skizze vom Pullovermodell wahr. Mit zitternden Händen klappte ich den Ordner zu, legte ihn auf den Boden.
Über dem Bett hing ein außergewöhnliches Mobile, das jetzt die Aufmerksamkeit der blindwütigen Zerstörer auf sich zog. Um mich von der brutalen Realität abzulenken, zählte ich neunzehn Paar rote Socken, von Baby- bis Erwachsenengröße, die an Fäden baumelten. Ich erinnerte mich an meinen Traum, wo rote Socken über den Wipfeln der Bäume im Blau des Himmels entschwanden. Als Ehrsam das Mobile herunterriss, entrang sich Rotsocks Kehle ein dumpfer Schrei. In seinem malträtierten Gesicht verbreitete sich ein Ausdruck, als würde er im nächsten Moment seinen letzten Atemzug tun. Als Heiri Ehrsam in jede Socke griff, auch da nicht fündig wurde und fluchte, sank der Junge leblos in sich zusammen. Ich schlug die Hände vor den Mund und sprang auf.
»Der ist hin«, grunzte Ehrsams Kollege, »hat sich ein Problem von selbst erledigt. Lass uns abhauen. Was machen wir mit der da?«
Nahe traten die beiden Männer an mich heran, musterten mich mit gehässigen Blicken.
In die eingetretene Stille peitschte plötzlich eine Stimme: »Hände hoch, Polizei!«
Ehrsams Arm zuckte reflexartig vor, legte sich um meinen Hals und riss mich an sich. Sein Kumpel reagierte ebenso schnell, zückte die Waffe und drückte ab. Fast gleichzeitig fiel ein zweiter Schuss. Die Schützen sackten beide zu Boden. Für einen Augenblick sah ich das Gesicht des Polizisten. Es war Kevin Stoller. Mein Peiniger zuckte zusammen, überblickte die Lage und witterte seine Chance. Er riss seine Pistole aus dem Hosenbund und presste den Lauf an meine Schläfe. Die peitschenden Schüsse erweckten Rotsock zu neuem Leben. Verstört kroch er umher. Wie von Zauberhand wurde Stoller aus der Gefahrenzone auf den Flur hinaus gezogen. Unmittelbar danach erschien die Kommissarin auf der Türschwelle.
»Mach keine Zicken, Berisha«, zischte Ehrsam, »sonst glaubt die Kleine dran. Schieb mir deine und die Knarre deines Lovers herüber.«
Die Kommissarin befolgte seinen Befehl, musste untätig zusehen, wie ich von diesem Scheusal aus der Wohnung geschleppt wurde. Nur ein aufmunternder Blick erhaschte ich von ihr. Ehrsam beachtete den Kumpel nicht, der im Wohnzimmer an die Heizung gefesselt war. Kaum waren wir aus dem Haus, begann er zu rennen, zerrte mich mit sich. Ich verlor die Sandalen, stolperte mit ihm über den Hinterhof der Bahnhofstraße zu. Mir war längst die Puste ausgegangen. Um nicht aufzufallen, mäßigte er das Tempo und machte auf verliebtes Pärchen. Niemandem fiel auf, dass ich keine Schuhe anhatte und keuchte, als hätte mein letztes Stündlein geschlagen. Als wir den Fußgängerstreifen zur Bahnhofshalle überquert hatten, brandete Sirenengeheul auf. Polizeifahrzeuge und ein Krankenwagen preschten vorüber.
Grinsend blieb Ehrsam stehen, zog mich an sich, flüsterte in mein Ohr: »Geh nach Hause, Angela, und schlaf deinen Rausch aus.«
Er ließ mich einfach stehen, spazierte in die Halle hinein und verschwand in der Menge. Der Angstschweiß musste mir den Alkohol aus den Poren getrieben haben, ich fühlte mich halbwegs nüchtern. Dem Drang, mich heulend an den Hals des erstbesten Passanten zu werfen, gab ich nicht nach, sondern machte mich auf den Rückweg. Im Hinterhof wimmelte es von Polizei. Ein Beamter fing mich ab, als ich ins Haus wollte. Ich verlangte, auf der Stelle zu Kommissarin Berisha vorgelassen zu werden, schrie ihn an, ich sei die Geisel. Er hielt mich am Arm fest, schaute mich verständnislos an und rief nach Kripochef Schläpfer.
»Frau Zappa! Bin ich froh, Sie zu sehen. Wie fühlen Sie sich?«
»Danke, Herr Schläpfer, es geht. Er hat mich am Bahnhof gehen lassen«, sagte ich matt. »Was ist mit Kevin Stoller?«
»Er hat Glück gehabt, ist nicht lebensgefährlich verletzt. Der andere ist tot. Frau Berisha hat Stoller begleitet. Frau Schwitzgebel und ihr Sohn wurden auch in Spitalpflege gebracht. Ein Komplize des Trios ist verhaftet. Nach Ehrsam läuft die Fahndung. Wie gut kennen Sie Ehrsam, Frau Zappa?«
»Nur flüchtig. Mein Mann und mein Schwager Erwin sind mit ihm befreundet. Von Heiri weiß ich, was mit Erwin passiert ist … Er meinte, er werde dafür sorgen, dass Guido morgen frei gelassen wird. Ich hatte ja von nichts eine Ahnung!«
»Unsere Polizeipsychologin Frau Sieber wird sich um Sie kümmern, Frau Zappa. Warten Sie einen Moment.«
Auf einmal sah ich den Kater aus dem Haus wischen und rief seinen Namen. Verstört sprang er in meine Arme und krallte sich an mir fest. Er zitterte am ganzen Körper. Ich anerbot mich, für das Tier zu sorgen, solange die Besitzerin im Spital war. Dankbar nahm Schläpfer das Angebot an und sorgte dafür, dass alles Nötige für die Katze aus dem Haus geholt wurde. Jemand hatte meine Sandalen gefunden. Hastig schlüpfte ich hinein. Frau Sieber und Polizist Korner halfen mir mit dem Transport der Katzensachen zu mir nach Hause.

    Fortsetzung –––>>>