Gedankenverloren ließ ich meinen Blick durch den gemütlichen Raum schweifen. Der Vorraum meines Schlafzimmers war mein liebster Aufenthaltsort. Die vielen Bücher, das Cheminée, das bei kühler Witterung eingeheizt wurde, der elegante Schreibtisch am Fenster, daneben die breite Glastür zum heimeligen, mit viel Liebe bepflanzten Balkon trugen dazu bei, mich bei Laune zu halten. Die ersten Frühlingsboten reckten ihre Blüten der bereits wärmenden Sonne entgegen. Im letzten Sommer saßen Gerhard und ich oft da draußen zusammen.
Unser Hausmädchen Judith Mettler litt sehr darunter, dass ihr Patron, den sie offen verehrte, gesundheitlich abbaute. Ich mochte Judith sehr gern, die sich rührend um meinen Gatten kümmerte. Sie hatte keine Angehörigen. In den fünf Jahren, die Judith in unseren Diensten stand, waren wir für sie eine Art Ersatzgroßeltern geworden.
Das Erinnerungsbild verblasste, als es an der Tür klopfte und Henriette gleich darauf mit dem Besucher eintrat.
»Herr Hurter möchte unbedingt mit dir sprechen, Sidonia.«
»Hurter? Doch nicht – René Hurter?!«, flüsterte ich atemlos.
»Genau der bin ich! Ich dachte, es sei an der Zeit, dich kennen zu lernen, Grosi Sidi.«
»Gr-Grosi Si-Sidi«, japste ich, » also, das geht mir ein bisschen zu schnell. Können Sie sich ausweisen?«
»Na klar doch! Da, Identitätskarte und Geburtsurkunde.« Er reichte mir die Papiere mit einem charmanten Lächeln. »Mutter sah in der Zeitung die Todesanzeige deines Mannes, ähm, meines Großvaters, war ganz aufgeregt und sagte, es gebe etwas zu erben für mich … Tut mir echt Leid, Grosi, dass Opa gestorben ist. Bis vor einigen Tagen wusste ich nichts von euch, sonst wäre ich eher eingefahren, kannst du mir glauben! Dir scheint es zum Glück wieder besser zu gehen. Du warst doch im Spital, nicht wahr? Das weiß ich auch aus der Zeitung.«
Ich schluckte leer, ignorierte seine rüde Ausdrucksweise und setzte mich an den Schreibtisch. Erinnerte mich an die Schlagzeile in der Tageszeitung, zog schaudernd die Schultern hoch. Mit einer Handbewegung forderte ich René auf, Platz zu nehmen, winkte Jetti zu mir. Sie zog sich einen Stuhl heran und studierte mit mir zusammen die Geburtsurkunde des jungen Mannes. Der Neunzehnjährige war wirklich mein Enkel, den ich zuletzt als Baby gesehen hatte.
»Deine Mutter erzählte dir bis jetzt nie etwas über deine Herkunft, René?«, stieß ich hervor, fühlte die Hand meiner Freundin auf meiner, beruhigte mich ein wenig.
»Nicht die Spur! Ich fiel aus allen Wolken, als Sarah mir die Zeitung unter die Nase hielt und sagte, wenn alles mit rechten Dingen zugegangen wäre, würde ich René Benz heißen. Mein Vater, der feine Edgar, habe sie hocken lassen und du und dein Mann wollten mich ihr wegnehmen, aber das habe sie zu verhindern gewusst. Sie sagte mir lediglich, dass mein Erzeuger starb, als ich noch in den Windeln lag, sie seinen Tod nie verwinden konnte und deswegen ledig geblieben sei.«
»Ach was! Als du auf die Welt kamst, war Edgar noch nicht einmal achtzehn«, rief ich emotionsgeladen, »und mein Sohn hat deine Mutter nicht hocken gelassen. Wir hätten dich gerne aufgenommen, das stimmt, aber wegnehmen wollten wir dich deiner Mutter nicht. Wie gerne hätten wir mehr für dich getan, aber deine Mutter brach den Kontakt zu uns einfach ab, nachdem Edgar drei Wochen nach deiner Geburt vom Blitz erschlagen worden war.«
Um die aufgeheizte Stimmung abzukühlen, warf Henriette die Frage auf: »Weißt du schon, was du nach der Matur studieren willst, René?«
»Matur! Studieren! Ha-ha-ha! Die Tante hat vielleicht Vorstellungen … Na klar, ich studiere daran herum, wie ich mir von dir ein Milliönchen unter den Nagel reißen kann, Grosi Sidi! Berufsmäßig sieht’s bei mir schitter aus. Eine Lehrstelle fand ich nicht, also jobbte ich mal dies, mal das. Nun weiß ich nicht einmal, wo ich schlafen soll, bin völlig blank, so ist das!« Theatralisch breitete er die Arme aus, stand auf, schaute zum Fenster hinaus. »Schön habt ihrs hier, echt. Da wäre noch etwas, Grosi Sidi. Meine Mutter steckt in einer endlosen Krise, seit keine Alimente mehr kommen. Jetzt bekommst du die Gelegenheit, die Scharte auszuwetzen. In dieser Riesenhütte ist doch massenhaft Platz, direkt schade, wenn fast alles leer steht, oder etwa nicht?!«
»Fakt ist, dass die Alimente extrem hoch angesetzt waren, um dir ein Studium oder zumindest eine gute Ausbildung zu sichern», erwiderte ich frostig, »doch deine Mutter scheint wohl sehr egoistisch gehandelt zu haben, wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf.«
»Das sieht meine Mutter aber ganz anders. Sie meint auch, wenn ich mich jetzt nicht ranhalte, prellst du mich endgültig um meine mir zustehende Erbschaft.«
»Also …, das muss ich mir nicht bieten lassen! Wir führen die Unterhaltung später fort, junger Mann.« Tief atmete ich durch. »Frau Auger wird dafür sorgen, dass für dich ein Zimmer im Westflügel hergerichtet wird.« Zu meiner Freundin gewandt sagte ich: »Sieh zu, dass er in der Küche was zu essen bekommt und lass ihn nicht aus den Augen. Ich weiß noch nicht, wie ich mit der Situation umgehen soll.«
Als die beiden das Zimmer verlassen hatten, spürte ich die holpernden Schläge meines Herzens bis in den Hals hinauf. Einerseits war es zweifellos freudige Erregung, andererseits aber hilfloses Erschrecken und Wut über seine Frechheiten. Das plötzliche Auftauchen des fast vergessenen Enkels stürzte mich in ein seelisches Dilemma. Wie konnte ich die vielen Jahre einfach aus meinem Gedächtnis streichen, in denen ich nie ein Lebenszeichen vom Kind meines verstorbenen Sohnes erhalten hatte? Was ich jetzt brauchte, war absolute Ruhe, um einen Entschluss fassen zu können.
Natürlich hätte ich den dreisten Jüngling einfach hinauswerfen können, aber das brachte ich nicht fertig. Er war der einzige Erbe. Von den von Wiggensteins war nur ich noch übrig. Mein Anwalt und langjähriger Freund des Hauses, Dr. Otto Plüss, recherchierte akribisch, doch alle Verästelungen des Stammbaums waren verödet. Hätte Edgar dieses Kind nicht gezeugt, würde der ganze Besitz nach meinem Ableben an die Stadt Wiggenstein fallen, denn auch auf der Linie Benz war Gerhard der letzte Spross gewesen, nachdem unser Sohn starb.
Ich hatte mich eigentlich schon damit abgefunden, den Menschen, der die Frucht der Arbeit vieler Generationen erntete, niemals wieder zu Gesicht zu bekommen. Aber nun wurde ich gezwungen, mich mit der Tatsache auseinanderzusetzen, dass der so lange entbehrte Enkel ein Gesicht bekommen hatte, das ich nun täglich sehen würde.

Ja, ich war es meinem Sohn schuldig, mich um sein Kind, meinen Enkel, zu kümmern. Auf einmal war ich fest entschlossen, aus René einen würdigen Nachfolger zu machen. Und für seine Mutter musste ich mir wohl auch etwas einfallen lassen, konnte sie nicht einfach ignorieren.
Ich ging mit René zu Dr. Plüss, der ihn nach Strich und Faden ausquetschte, um den Stand seiner Bildung und die allgemeine Einstellung zum Leben zu erfahren.
»Ich befürchte«, sagte Otto schließlich händeringend, »da ist Hopfen und Malz verloren! Liebe Sidonia, dein Enkel müsste sich ganz arg in den Hintern kneifen, um in die Geschäfte eingeführt werden zu können. Sein Bildungsstand weist eminente Lücken auf. Man müsste ihn ganz streng an die Kandare nehmen, um das Versäumte wettzumachen.«
»Ich weiß gar nicht, weshalb ihr euch so aufregt«, grinste René, »bis jetzt ist ja die ganze Chose auch ohne mich ganz prächtig gelaufen. Es reicht doch, wenn ich mich um mein Grosi kümmere! In dieser Beziehung habe ich tatsächlich viel nachzuholen, das versteht doch jeder, oder? Sie haben mein vollstes Vertrauen, Doktorchen. Sie haben den nötigen Überblick und ich kein Bock, mich in die Geschäfte einzumischen.«
Sein mangelndes Interesse an der Verwaltung des Vermögens ärgerte mich, doch ich nahm mir vor, Geduld zu üben. Irgendwann würde sich sein Knopf öffnen, hoffte inständig. Im Moment war er überfordert, das war ganz klar. Ihm würde einmal halb Wiggenstein gehören und das überstieg sein Vorstellungsvermögen.

Nach ein paar Tagen erlaubte ich René, in die Zimmer seines viel zu früh verstorbenen Vaters zu wechseln. Seine kindliche Freude beschämte mich. Mit gemischten Gefühlen ließ ich ihn gewähren, als er Edgars Kleider entdeckte, bettelte, sie tragen zu dürfen. Mein Einwand, die alten Klamotten seien aus der Mode, ließ René nicht gelten. Er erklärte mir, gerade dieser Stil sei heutzutage wieder voll in.
Damals konnte ich  mich nicht von Edgars Garderobe trennen, achtete darauf, dass die Sachen regelmäßig gelüftet und gepflegt wurden, obwohl ich wusste, dass er sie niemals wieder tragen konnte. Mit diesen Kleidern glich mein Enkel mehr denn je Edgar. Erstaunt stellte ich fest, dass der Schmerz des Verlustes um meinen Sohn verflogen war. Meine Liebe galt vorbehaltlos dem jungen Burschen, der so plötzlich in mein Leben trat.
Die inzwischen 44-jährige Sarah Hurter bekam zwei schöne Zimmer im Parterre, wo sie sich sogleich chaotisch einnistete. Sie war eine schwierige Person, wirkte stets unzufrieden, nörgelte dauernd an René herum. Er hatte sich als witzigen, charmanten Gesellschafter entpuppt, der Henriette und mich in Atem hielt. Schon nach kurzer Zeit mochte ich ihn nicht mehr missen. René war Balsam für mein Herz! In seiner Gegenwart fühlte ich mich wieder jung und beschwingt. Wenn Henriette ihren Pflichten nachging, wich er nicht von meiner Seite, hatte immer Ideen auf Lager, wie die Zeit unterhaltsam verbracht werden konnte. Seine Mutter hingegen benahm sich wie die Prinzessin auf der Erbse, verscherzte sich das anfängliche Wohlwollen der Angestellten und machte sich bei mir auch nicht gerade beliebt. Sie ging oft in die Stadt, blieb manchmal nächtelang fort, schmiss nur so mit Geld um sich, seit ich ihr ein eigenes Konto eingerichtet hatte. Einen Freund brachte sie nie mit heim.
Wenn auch mein Enkel im Vergleich zu seiner Mutter recht bescheiden war, so irritierte mich meine neue Lebenssituation doch, bewog mich, einige Sachen mit meinem Anwalt zu regeln. Mein Herzinfarkt am Grabe meines Mannes hatte mir gezeigt, wie plötzlich das »Aus« kommen konnte. Mit Otto Plüss arbeitete ich ein Testament aus, das meinen Angestellten und vor allem meiner Freundin eine gesicherte Existenz bot, wenn ich einmal nicht mehr war. Als alles zu meiner Zufriedenheit aufgesetzt war, rief ich die ganze Belegschaft zusammen, orientierte sie über meinen letzten Willen, obwohl Otto dagegen war, den Leuten jetzt schon von der künftigen Erbschaft zu berichten. Lachend schlug ich die Warnung in den Wind. Die Angestellten indes waren mir sehr dankbar, von nun an ohne Angst in die Zukunft blicken zu können.
Kaum war die Sitzung aufgelöst, trat Elsa Bell, die Frau unseres Kochs, an mich heran, beichtete mir, ihr Mann sei ein hoffnungsloser Spieler, habe hohe Schulden gemacht. Eindringlich bat sie mich um einen Vorschuss auf die in Aussicht gestellte Erbschaft. Verärgert lehnte ich ab, knöpfte mir ihren Mann vor. Er war ein exzellenter Koch, hatte leider einen labilen Charakter. Ich beschwor ihn, eine Therapie zu machen, um von der krankhaften Spielsucht loszukommen. Reumütig versprach er mir und seiner Frau, fortan dem Glücksspiel zu entsagen und war überzeugt, das Problem aus eigener Kraft in den Griff zu bekommen. Er schien sich an sein Versprechen zu halten. Negative Berichte kamen mir keine mehr zu Ohren. Trotzdem musste ich an Ottos Worte denken. War es falsch, den Menschen um mich herum zu vertrauen?

Die Blustfahrten im Frühling mit René waren einfach herrlich! Mein Chauffeur folgte gehorsam den Anweisungen meines Enkels, der die Routen vorher genau plante. René freundete sich mit dem Chauffeur an, der ihm auf unserem Gelände die ersten Fahrstunden gab. Bald nahm er bei einem diplomierten Fahrlehrer Stunden. Seine überschäumende Freude flachte schnell ab, als ich nicht bereit war, ihn jedes Mal zu begleiten. Ich war gerne mit ihm zusammen, doch manchmal vermisste ich die traute Zweisamkeit mit meiner Freundin Jetti. Im Gegensatz zu René beschnitt sie meine Selbstständigkeit nicht. Er behandelte mich wie eine zarte Pflanze, die weder den geringsten Luftzug, noch Bewegung verträgt. Sogar die Herztropfen reichte er mir pünktlich, als ob ich nicht mehr in der Lage wäre, sie selber abzuzählen.
Renés Fürsorge ging so weit, dass er mir das Tennis spielen verbieten wollte. Er meinte, das sei für mein Herz viel zu anstrengend. Ich brauchte Doktor Schramms Unterstützung, um mir mein tägliches Vergnügen zu sichern. Mein Hausarzt versicherte René, dass gerade diese Sportart für mich ideal sei. Zwei Sandplätze gehörten schon immer zur Villa, doch nachdem es einen Sommer lang fast dauernd regnete, ließ Gerhard eine Halle bauen, sodass wir das ganze Jahr hindurch dem heiß geliebten Sport frönen konnten. Edgar begann schon als kleiner Junge zu spielen, wurde mit der Zeit für uns Eltern ein harter Gegner. Seit Henriette bei uns wohnte und arbeitete, spielte ich jeden Tag eine Stunde mit ihr. Und das ließ ich mir nicht nehmen! Um meinem Enkel den Wind aus den Segeln zu nehmen, engagierte ich für ihn einen Tennislehrer, damit er nicht nur zuschauen, sondern selber aktiv sein konnte.
Natürlich fühlte Sarah sich wieder einmal übergangen, klagte, man behandle sie wie Luft. Auch sie bekam ihre Stunden, schmiss den Schläger bald in die Ecke, äußerte missmutig, Tennis sei ein äußerst doofer Sport.

Eines war sicher: René hatte das Arbeiten sowenig erfunden wie seine Mutter. Schlicht gesagt, er war ein fauler Hund. Trotzdem hatte ich ihn lieb.
Vier Monate lebten René und Sarah Hurter inzwischen im Hause Benz-von Wiggenstein wie die Maden im Speck. Er genoss den Status als Prinz in vollen Zügen und seine Mutter lebte ihr eigenes Leben. Immer noch verschwendete er die Zeit mit mir, war nicht dazu zu bewegen, doch noch ein Studium zu beginnen.
Das Ärgernis um Renés Faulheit verlor an Wichtigkeit, als mein Hausmädchen Judith unter mysteriösen Umständen ums Leben kam. Judith Mettler war begeisterte Radlerin. Sie liebte es, in ihrer Freizeit der Wigge entlang zu fahren, genoss die Stille der Natur, mochte das strömende Wasser, das ihr nun zum Verhängnis wurde. Eine winzige Sekunde Unachtsamkeit musste gereicht haben, das Rad über den Wegrand zu steuern. Die steile Böschung endete direkt in den Fluten, die sie erbarmungslos verschlangen. Allerdings gab eine Kopfverletzung zu wilden Spekulationen Anlass, denn wie und wann sie sich diese zugezogen hatte, war keineswegs klar. Die Polizei untersuchte den vermeintlichen Unfall, suchte Zeugen, die möglicherweise etwas beobachtet hatten. Es meldete sich niemand. Die Befragung der Angestellten brachte viel Aufregung ins Haus, unter der ich ziemlich litt.
Das Ergebnis der Obduktion war erschütternd. Judith Mettler wurde mit einem stumpfen Gegenstand bewusstlos geschlagen und danach mitsamt dem Fahrrad in die Wigge geworfen; sie war im dritten Monat schwanger. Ob es sich um ein  Beziehungsdelikt handelte oder kaltblütigen Mord mit noch unbekanntem Motiv mussten die Ermittlungen ergeben. Bei der ersten Befragung konzentrierte sich das Interesse des Kommissars bald auf zwei Personen meines Haushalts. Judith war mit der gleichaltrigen Küchenhilfe Regula eng befreundet. Beide traten als Achtzehnjährige in meine Dienste, waren die jüngsten in der Crew, gliederten sich problemlos ein. Die Freundschaft der beiden Frauen litt nicht darunter, als Regula den Gärtnergesellen Manfred heiratete. Sie machten weiter zu dritt die Stadt Wiggenstein unsicher, gingen zusammen ins Kino oder in die Disco. Aufgefallen war Regula und Manfred ein Typ, der von allen Erem genannt wurde. Er schloss sich vor etwa fünf Monaten einer Clique an, die sich regelmäßig in der Disco traf und machte sich gleich an Judith heran. Sie schien ihn zu mögen, tanzte oft mit ihm, nahm die Getränke an, die er ihr offerierte. Schon bald vertraute Judith ihrer Freundin an, Erem habe ihr einen Heiratsantrag gemacht. Dass sie ein Kind erwartete, behielt sie für sich.
Mit weinerlicher Stimme klagte Regula: »Und ich habe mich tags zuvor noch mit Judith gezankt, sonst wäre ich mitgefahren. Und wenn meine Fahrradreifen nicht ausgerechnet an jenem Tag hinten und vorne platt gewesen wären, wäre ich vermutlich trotzdem mit ihr gegangen. Aber danach dachte ich, sie hätte die Pneus aus Wut zerstochen oder weil sie mich gar nicht dabei haben wollte.« Sie äugte zu mir herüber, verstummte abrupt, senkte den Blick.
Kommissar Wepfer beugte sich interessiert zu ihr hinab, wollte wissen, weshalb sie sich mit Judith stritt.
Wieder der Blick zu mir, dann aufgeregtes Flüstern, das in der atemlosen Stille trotzdem deutlich zu hören war: »Judith sagte, man müsse damit rechnen, dass unsere Chefin ihrem Gatten bald ins Grab folge. Das sei normal, wenn ein Ehepaar so lange zusammen gewesen sei, habe ihr Erem erklärt. Manfred, mein Mann, findet auch, das sei ausgemachter Blödsinn, wo doch Frau Benz-von Wiggenstein erst sechzig ist! Ich nannte Judith eine dumme Kuh, dem Gefasel des aufgeblasenen Affen überhaupt zuzuhören, worauf sie sehr beleidigt reagierte.«
»Dieser Erem ist ein Idiot«, schrie Sarah unbeherrscht«, das trifft doch nur auf gleichaltrige Ehepaare zu, das weiß doch jedes Kind!«
»Da hat meine Mutter Recht«, bekräftigte René, »und mein Grosi hat ja jetzt mich. Ich werde schon dafür sorgen, dass eure Chefin weiterhin gesund bleibt, darauf könnt ihr Gift nehmen!«
Es tat gut, seinen Arm um meine Schultern zu spüren. Und ich war froh, dass Jetti meine Hand hielt. Ich hatte eine Aufmunterung dringend nötig.
»Da war noch etwas, Herr Kommissar«, meldete sich Manfred, »auch ich hatte Zoff mit Judith. Sie hat dem Koch schon mehrmals Geld geliehen, das er umgehend verspielte. Jedes Mal versprach er, mit dem Scheiß aufzuhören, aber alle wissen, dass er ein hoffnungsloser Zocker ist. Wir vereinbarten, ihm nichts mehr zu geben, doch Judith hatte Mitleid mit ihm und hielt sich nicht an unsere Abmachung. Der liebe Herr Bell schuldet fast jedem hier noch ganz schöne Summen, die wir uns wohl ans Bein streichen können.« Manfred warf dem Koch einen gehässigen Blick zu. »Vielleicht war er der Letzte, der Judith lebend gesehen hat …«
»Ach, interessant«, horchte Wepfer auf, »wie kommen sie zu dieser Annahme?«
»Bevor Judith losfuhr, unterhielt er sich mit ihr. Ob er ihr gefolgt ist, kann ich nicht sagen, wir hatten viel Arbeit im Garten. Vielleicht zerstach er Regulas Pneus, um freie Bahn zu haben.«
»Aha, Herr Bell, ich glaube, Sie sind mir eine Erklärung schuldig. Nicht doch! Davonrennen bringt nichts.«
»Elsa, ich war’s nicht«, rief Bell seiner Frau beschwörend zu, die ihren Kopf in den Armen begraben auf den Tisch gelegt hatte, »du musst mir glauben, ich hätte Judith nie wehtun können! Bitte, Herr Kommissar, Frau Benz-von Wiggenstein und ihr alle, ich war’s nicht – und Regulas Fahrrad habe ich nicht angefasst«, wimmerte er in heller Aufregung.
In der großen Küche brandete erst Gemurmel auf, dann redeten alle lauthals durcheinander, bis man sein eigenes Wort nicht mehr verstand. Wepfer war sich nicht sicher, ob er den Beteuerungen der Frau des Kochs Glauben schenken konnte. Sie gab ihrem Mann ein Alibi für die Tatzeit. Zur fraglichen Zeit besprach Henriette Auger mit ihnen das Menü für das Abendessen, danach war das Ehepaar allein in der Küche. Eine halbe Stunde blieb offen. Äußerst knapp, wenn man Hin- und Rückweg plus die Tat zeitlich berechnete. Nur nichts überstürzen, dachte Kommissar Wepfer, abwarten und die Leute im Auge behalten war seine Devise.

Fortsetzung –––>>>>