Drei Tage vergingen, bis Henriette das endgültige und überraschende Ergebnis der Analyse vom Inhalt des Fläschchens mitgeteilt wurde. Auf Anraten des Chefarztes informierte sie Kommissar Wepfer. Als Jetti das Krankenzimmer betrat, stellte sie eine unbekümmerte Miene zur Schau.
»Jetti! Schön, bist du da.« Ich war froh, sie zu sehen. »Warum hast du René nicht mitgebracht? Er kam gestern zu mir, aber die Schwester hat ihn sofort rausbugsiert. Sie bewacht mich, als ob mich jemand stehlen wollte! Außer dir wird niemand zu mir vorgelassen, dabei geht es mir doch schon wieder ganz ordentlich.«
»Reg dich nicht auf, Sidi. Es wird alles geklärt, verlass dich nur auf mich.«
»Geklärt? Was willst du damit sagen?«, fragte ich, hellhörig geworden.
Meine Freundin wusste genau, dass ich nicht locker lassen würde und erzählte mir kurz und bündig, was Sache war, das Verbot des Chefarztes ignorierend.
»Du wirst es nicht glauben, Sidi, deine Herztropfen waren nichts als reines Wasser. Weißt du, was das bedeutet?« Sie biss sich auf die Unterlippe, drückte mir in ängstlicher Besorgnis die Hand.
»Da das Medikament lebenswichtig für mich ist, gibt es nur eine Erklärung dafür«, sagte sie trocken, »jemand will mich aus dem Weg schaffen.«
Ohne Worte waren Henriette und ich uns einig, dass der Hauptverdächtige mein Enkel René sein musste. Hatte ich mich so sehr im Wesen des jungen Mannes getäuscht? War er es leid, andauernd daran erinnert zu werden, den Reichtum, der irgendwann in seinen weit offenen Schoß fallen sollte, nicht tatenlos anzunehmen? Er meinte sorglos, er sehe nicht ein, weshalb er auch nur einen Finger krumm machen sollte für etwas, das in Hülle und Fülle vorhanden war und sich sozusagen selbst vermehrte. Mir ging es gegen den Strich, das hart erarbeitete Vermögen dem Faulpelz einfach in den Rachen zu werfen. Trotz diesbezüglichen Meinungsverschiedenheiten liebte ich den unbekümmerten Bengel, war ihm nie ernsthaft böse.
Und nun das!
War er wirklich so dumm zu glauben, er käme damit durch? Wie konnte er mir noch in die Augen schauen, ohne mit der Wimper zu zucken? War er hinter seiner zutraulichen Fassade wirklich so kaltschnäuzig und skrupellos? Er schnitt sich doch ins eigene Fleisch, wenn sein gewissenloses Tun aufgedeckt wurde.
»Das war eindeutig ein Mordversuch, Sidonia«, unterbrach Jetti meine trüben Gedanken. »Du musst den Schnösel, was sage ich, den hinterhältigen scheinheiligen Kerl anzeigen!«
»Ich will nicht daran glauben, dass er zu so etwas fähig sein könnte. Er hat doch alles, was sein Herz begehrt! Ich zwinge ihn nicht, dauernd an meiner Seite zu kleben. Weiß der Teufel, warum er offensichtlich kein Bedürfnis nach einem Eigenleben hat. Warum trifft er sich nie mit anderen jungen Leuten?«
»Es führt kein Weg daran vorbei, du musst ihn anzeigen.«
»Ach, Henriette … Was ist mit Sarah? Nein, die hätte ja gar nichts davon. René müsste schon mit ihr unter einer Decke stecken, was ich mir nun gar nicht vorstellen kann. Wahrscheinlich hast du Recht. René ist meiner überdrüssig.« Gequält schnupfte ich, kämpfte gegen aufsteigende Tränen. »Es könnte auch jemand von den Angestellten gewesen sein. Alle wissen vom Testament. Jeder hätte die Möglichkeit gehabt, an mein Medikament zu kommen. Der Koch zum Beispiel hätte allen Grund, mich zum Teufel zu wünschen.«
»Ja, da hast du Recht, Sidonia. Es ist schon seltsam, dass ich das Fläschchen im Grünabfall der Küche gefunden habe. Die Schatulle ist verschwunden …«
»O nein! Bell hat mein geliebtes Kästchen gemopst?«, jammerte ich. »Hätte ich ihm bloß das Geld gegeben. Ein Hehler gibt ihm bestimmt mindestens fünfzehntausend Franken dafür.«
»Gut, nehmen wir einmal an, Ernst Bell war der Dieb. Er hätte aber wohl kaum dein Medikament ausgeschüttet und es mit Wasser ersetzt, bevor er das Fläschchen in den Küchenabfall warf.«
Eine Weile schwiegen wir und hingen unseren Gedanken nach.
»Weißt du was, Jetti? Wir stellen denen eine Falle«, sagte ich entschlossen. »Du gehst jetzt nach Hause und teilst vor versammelter Gesellschaft mit, ich sei gestorben. Dann informierst du Otto und den Kommissar. Letzterer soll die Verdächtigen beschatten lassen. Mit dem Chefarzt und der Schwester spreche ich selber. Sobald alles eingefädelt ist, kommst du mit all unseren Leuten hierher. Dann werden wir ja sehen, wer wie reagiert, wenn ich als hübsch präparierte Leiche was ist denn?«
Jetti war aufgesprungen, schnappte geschockt nach Luft. »Du bist nicht ganz bei Trost! So nicht, Sidonia, das kannst du nicht von mir verlangen.«
»Na gut«, grummelte ich, »meine Idee ist vielleicht zu extrem. Aber ich kann weder René noch meinen Koch ans Messer liefern, dazu bin ich zu feige. Mach du das, bitte.«
Mit einer herzlichen Umarmung verabschiedete sich Henriette. Nun hatte ich Zeit, mir alles durch den Kopf gehen zu lassen. Ich hatte gedacht, das schwüle Wetter sei an meinem Zusammenbruch schuld. Natürlich zermürbte mich auch Renés Einstellung. Er war zu gar nichts zu motivieren, das nach Arbeit roch. Er staunte, dass ich selber täglich mindestens zwei Stunden am Computer saß, Besprechungen mit dem Anwalt führte und die Fäden der Geschäftsführung in der Hand behielt. René begriff nicht, dass mir die Arbeit Freude machte.
Ein Lichtblick mochte sein, dass er nicht von meiner Seite wich, während ich am Computer arbeitete. Er bewunderte meine Fingerfertigkeit an der Tastatur und war nicht abgeneigt, einen Computerkurs zu absolvieren. Das wäre doch immerhin ein Anfang gewesen.
Es tat weh, vom eigenen Fleisch und Blut betrogen und verraten zu werden. Was mir mein Enkel vorgespielt hatte, grenzte an Schizophrenie. Ich sah nur sein freundliches Gesicht. Nie spürte meine sonst so sensible Seele die heimliche Bedrohung.
Mir war sterbenselend zumute. Ich fegte die wirren Gedanken aus meinem Kopf und versuchte zu schlafen.
Mit weit ausgreifenden Schritten marschierte Otto Plüss in seiner Kanzlei vor Henriette auf und ab und wetterte über Sidonias hirnverbrannte Idee, eine »Leichenschau« zu veranstalten.
»Zugegeben, Sidonias Überlegungen sind nicht von der Hand zu weisen. Ihr Tod würde nicht nur René einen finanziellen Vorteil bringen. Allerdings …«
Das Klingeln des Telefons unterbrach ihn. Energisch riss er den Hörer ans Ohr. Kommissar Wepfer war an der Strippe. Nach wenigen Minuten beendete Plüss das Gespräch.
»Also Henriette, ich treffe mich gleich mit dem Kommissar. Die Villa wird überwacht und ich soll zum Schein Sidonias Papiere in ihrem Büro in Augenschein nehmen. Somit teile ich mit dir die Verantwortung. Es kommt einiges auf dich zu, lass dir das gesagt sein. Du darfst kein Wort über die Vermutung eines Mordanschlags verlauten lassen. Für eine Verhaftung reichen die Indizien nicht aus, sagt Wepfer.«
»Solange René nicht überführt ist, will Sidonia an seine Unschuld glauben. Hoffen wir für sie, dass sie Recht behält und der wahre Schuldige in die Falle tappt, die Kommissar Wepfer ihm zu stellen gedenkt.«
»Jaja, wir kennen beide ihren Dickkopf. Wenn sie eine fixe Idee hat, versteift sie sich darauf, da wächst kein Kraut dagegen.«
Er fluchte laut, machte kein Hehl daraus, dass er René Hurter am liebsten gevierteilt oder erwürgt hätte. Schief grinsend reichte er Henriette die Hand und geleitete sie zur Tür.
Sie ging aus dem Haus, schritt auf die Limousine zu, die vor der Kanzlei parkte. Mit stoischer Ruhe wartete der Chauffeur, ließ seinen Blick über den Hellerplatz schweifen. Die Lippen zu einem vagen Lächeln verziehend verneigte er sich knapp und riss den Wagenschlag für Henriette auf.
»Verzeihen Sie, Frau Auger«, sagte Chauffeur Karl leise, »sagen Sie mir bitte, wie es ihr geht. Ich mache mir solche Sorgen,«
»Ganz im Vertrauen, Herr Karl, sie ist auf dem Weg der Besserung. Den anderen werde ich sagen, dass kaum mehr Hoffnung besteht. Bewahren Sie Stillschweigen, vergessen Sie, was ich Ihnen gesagt habe.«
Überrascht hob er die Augenbrauen, drückte den Wagenschlag zu, ging nachdenklich auf die Fahrerseite, stieg ein, fuhr los und sagte: »Verstehe. Meine Lippen sind versiegelt. Danke für Ihr Vertrauen, Frau Auger.«
Die ganze Belegschaft war zum Nachtessen in der Küche versammelt. Auch René und Sarah saßen am Tisch. Mit leiser Stimme verkündete Henriette die schlechte Nachricht. Ein Raunen ging durch den Raum, die Köpfe senkten sich. Sarah tätschelte René tröstend den Rücken, benahm sich wie eine liebende Mutter, die den Schmerz ihres Kindes versteht und ihn lindern möchte.
Bis gegen Mitternacht blieben alle in der Küche. Gesprächsstoff gab es in Hülle und Fülle. Sosehr auch Henriette ihr Gespür auf die verschiedenen Reaktionen sensibilisierte, niemand gab sich eine Blöße, die sie als verräterisch hätte bezeichnen können. Der Koch zeigte sich ebenso bestürzt wie alle anderen, doch wer konnte wissen, ob er sein Pokerface aufsetzte! Regula und Manfred waren überzeugt, dass Judiths Tod schuld am Zusammenbruch der Chefin war. Da die Fahndung der Polizei nach Erem bis jetzt im Sand verlaufen war, beschlossen die beiden, den Kerl auf eigene Faust zu suchen. Sie hatten ihm nie über den Weg getraut. Alle rieten ihnen davon ab und meinten, das sei viel zu gefährlich. Das beeindruckte das junge Ehepaar nicht. Im Gegenteil. Nun waren sie erst recht nicht mehr von ihrem Plan abzubringen, am nächsten Abend auf Verbrecherjagd zu gehen. Sie vermuteten, dass er Judith umgebracht hatte, weil sie ein Kind von ihm erwartete und damit unter Druck setzte. Und die arme Judith hatte geglaubt, er wolle sie heiraten.
Am nächsten Morgen um sechs klopfte Elsa Bell völlig in Tränen aufgelöst bei Henriette. Ihr Mann war nicht nach Hause gekommen. Er war in der Nacht aus dem Haus geschlichen, um seine Gläubiger zu treffen.
»Das hat gerade noch gefehlt«, murmelte Henriette, laut sagte sie, »hören Sie auf zu weinen, Elsa, er ist doch immer wieder nach Hause gekommen. Gehen Sie an die Arbeit, das lenkt ab. Wir sehen später weiter.«
Offensichtlich ließ Kommissar Wepfer Villa und Gesindehaus erst ab heute überwachen, sonst hätten sie Bell verfolgt und gestellt.
Um neun saßen Henriette Auger, Otto Plüss und René beim Frühstück auf der Terrasse. Regula kam und meldete den Besuch der Kommissare Wepfer und Renold an. Die Herren folgten ihr auf dem Fuß, wollten gleich zur Sache kommen, doch Sarah Hurter lenkte aller Aufmerksamkeit auf sich.
Aufgeregt stürzte sie aus dem Haus und schrie: »Es ist nicht zu fassen, wir haben Diebe in dieser vornehmen Hütte! Oh, die Gesetzeshüter kommen wie bestellt. Morgen zusammen.« Sie setzte sich neben René und fuhr fort: »Zuerst verschwindet die Schatulle und nun hat mir jemand zwölftausend Franken geklaut! Ich hatte die Absicht, meine Garderobe zu erneuern, hob das Geld am Tag vor Grosi Sidis Herzanfall von meinem Konto ab und legte es in eine abschließbare Schublade im Sekretär. In Anbetracht der traurigen Umstände verschob ich meine Einkaufstour und stand meinem Sohn zur Seite. Heute Morgen stellte ich fest, dass das Schloss aufgebrochen und die Schublade leer ist! Wann eingebrochen wurde, weiß ich nicht, da ich den Sekretär erst heute wieder öffnete.«
Einen Moment blieb es still, dann fragte Otto Plüss: »Weshalb, zum Kuckuck, brauchen Sie so viel Bargeld, Sie haben doch eine Karte, mit der Sie problemlos einkaufen können.«
»Ich hasse diese Dinger. Es macht mir halt Spaß, Cash in der Hand zu haben, aber das können Sie nicht verstehen«, erwiderte sie schnodderig.
Nun fand es Henriette an der Zeit, den Koch zu erwähnen, der noch immer nicht zurück war. Sogleich geiferte Sarah los, dann sei ja wohl klar, wer bei ihr eingebrochen habe. Bell habe nämlich mitbekommen, dass sie auf der Bank gewesen sei und wie viel sie abgehoben habe.
»Hm, es war nicht sehr klug von Ihnen, wo Sie doch wissen, dass er in Schwierigkeiten steckt.« Wepfer warf Kollege Renold einen Blick zu, den auch Henriette richtig deutete. Die Überwachung lief ein paar Stunden zu spät an.
»Um den Diebstahl werden sich die Kollegen vom Einbruchsdezernat kümmern, die ich gleich anfordern werde. Die Fahndung nach Herrn Bell kurbeln wir auch gleich an«, brummte Wepfer und griff zum Handy. »Ich hoffe, Sie haben nicht alle Spuren verwischt, Frau Hurter.«
»Sicher nicht.« Überheblich hob sie das Kinn, schenkte sich Kaffee ein und nahm gelassen einen Schluck.
Nachdem der Kommissar das Telefonat beendet hatte, setzte er sich an den Tisch.
»So, kommen wir zur Sache.« Ruhig schaute der Kommissar René ins Gesicht. »Herr Hurter, wäre es möglich, dass Sie Ihrer Großmutter in Ihrer Besorgnis zu viel Tropfen verabreicht haben?«
»He, Moment mal«, rief Sarah entrüstet, »Sie verdächtigen doch nicht etwa meinen Sohn, irgendeine Schweinerei gemacht zu haben?! Er mag ja nicht der Hellste sein, aber Tropfen korrekt abzählen kann er allemal!«
»Nun, wir wissen alle, dass Ihr Sohn der alleinige Erbe des gesamten Vermögens der Frau Benz-von Wiggenstein ist. Vielleicht war die Versuchung zu groß, Herr Hurter«, sagte Renold trocken.
»Nein, ich habe nie daran gedacht, meiner Großmutter zu schaden«, sagte René leise, » ich liebe sie. Wenn die Flasche nicht verschwunden wäre, könnte genau überprüft werden, wie viele Tropfen Grosi bekommen hat. Als ich das Medikament anbrauchte, schrieb ich das Datum darauf. Ich glaube eher, dass das Verbrechen an Judith meiner Grosmutter so zugesetzt hat.«
»Sehen Sie, was habe ich gesagt!«, triumphierte Sarah. »Fühlen Sie lieber mal der selbstherrlichen Frau Auger auf den Zahn. Angeblich fand sie das Medikament nicht. Warum wohl, he? Weil sie es manipuliert hat und man ihr auf die Schliche gekommen wäre! Wie es aussieht, hat sie ihr Ziel erreicht. Renés Grosi ist gestorben, nicht wahr? Oje, hast du dich verschluckt, René?«, rief sie und klopfte ihrem Sohn den Rücken.
Jetti ließ sich durch Sarahs Affront nicht provozieren. »Gestorben ist meine Freundin noch nicht, Frau Hurter, aber ihr Leben hängt an einem seidenen Faden. Und übrigens wissen die Herren Kommissare, dass alle in diesem Haus Zugang zu den privaten Räumlichkeiten der Frau Benz-von Wiggenstein haben. Was den Fall Judith Mettler betrifft, so könnte René Recht haben. Dieser schlimme Vorfall hat dem Herzen seiner Großmutter tatsächlich schwer zugesetzt.«
»Jetzt kommt sie wieder mit der Mettler, um von sich abzulenken«, schrie Sarah, »und sie versucht euch zu verklickern, dass auch ich etwas gedreht haben könnte. So eine Frechheit, wo doch gerade ich rein gar nichts davon hätte, wenn Renés Grosi ins Gras beißen würde! Zuletzt behauptet sie noch, mein René habe diese Schlampe Judith in die Wigge befördert und seine Großmutter umgebracht, nur damit sie absahnen kann. Jede Wette, die Jungfer erbt den ganzen Krempel, wenn René in den Knast wandert!«
Schützend legte Sarah einen Arm um ihren weinenden Sohn, stieß hart die Luft aus und schlug mit der Faust auf die Tischplatte.
»Mäßigen Sie sich, Frau Hurter«, schnauzte Plüss sie an. »Die Kommissare sind hier, um das Personal nochmals im Fall Mettler zu befragen.«
»Da ist noch einiges unklar«, nickte Wepfer. »Sie brauchen sich nicht zu bemühen, Frau Auger, wir kommen zurecht.«
Auf dem Weg ins Haus raunte Wepfer seinem Kollegen laut genug zu, dass es die gespitzten Ohren auf der Terrasse hören konnten: »Morgen führen wir eine Hausdurchsuchung durch. Ich bin überzeugt, dass das Medikament in der allgemeinen Aufregung nur verlegt worden ist.«
Die Falle war gestellt. Auf der von Henriette gefundenen Flasche war die Etikette vom Küchenabfall verschmiert. Würde das Medikament am nächsten Tag wie durch ein Wunder im Haus gefunden, wäre das ein konkreter Beweis für die Schuld Renés und er würde die Schlinge um seinen Hals selber zuziehen.
Henriette hatte keine Lust, länger den bösen Blicken Sarahs ausgesetzt zu sein. Mehr noch ging ihr Renés Gejammer auf die Nerven, das er überzeugend zur Schau stellte. Wortlos verließ sie mit Otto Plüss die Terrasse. Er ging ins Obergeschoß, sie in ihre Wohnung im Parterre. Wenig später sah sie René und seine Mutter durch den Park spazieren. Sie fragte sich, was die Hurter ihrem Sohn eintrichterte, denn sie fuchtelte mit den Händen in der Luft herum und redete ununterbrochen auf ihn ein.
Im Laufe des Vormittags wurde Elsa Bell von der Polizei abgeholt. Sie musste einen Verletzten identifizieren, der ohne Papiere in der Notaufnahme gelandet war. Gegen Mittag wurde sie zurückgebracht und war so ziemlich am Ende ihrer Kräfte. Sie riss sich zusammen und erstattete Henriette Auger Bericht. Es war ihr Mann, der vom Hund eines Nachtwächters morgens um zwei in einem Hinterhof aufgespürt wurde. Ernst Bell war mit einem Kieferbruch und einer Schädelfraktur in die Notaufnahme des Spitals eingeliefert worden. Sie brauchten ihm keinen Zahn zu entfernen, damit er in nächster Zeit Flüssignahrung und Getränke durch einen Strohhalm aufnehmen konnte; das hatten die Schläger bereits erledigt. Da sein Kiefer mit Drähten zusammengenäht war, konnte man von ihm für längere Zeit keine mündliche Aussage erwarten.
Während der Befragung des Personals war die Spurensicherung in Sarahs Zimmer tätig. Viel kam dabei nicht heraus. Als endlich Ruhe einkehrte, schlüpfte Jetti aus dem Haus und ließ sich von Karl zum Krankenhaus chauffieren.
Sie nahm den Lift, ging zielstrebig den Gang entlang. Ein uniformierter Polizist hielt Wache vor Sidonias Zimmer. Zögernd ging sie näher. Der Polizist erklärte ihr freundlich, bis auf weiteres dürfe die Patientin keinen Besuch empfangen. Verunsichert suchte Jetti nach dem Chefarzt.
Als sie ihn endlich fand, sagte er kurz angebunden: »Ihre Freundin braucht einen Herzschrittmacher. Sie hat in die OP eingewilligt. In zwei, drei Tagen ist es soweit. Bis dahin braucht sie absolute Ruhe.«
Am Abend zogen Regula und Manfred gleich nach dem Nachtessen los. Das Ehepaar durchstreifte Discos und Bars, befragte unzählige Leute nach Erems Verbleib. In ihrem Eifer bemerkten die beiden nicht, dass ihnen jemand auf Schritt und Tritt folgte.
René klagte über Kopfschmerzen und zog sich sehr früh zurück. Seine Mutter setzte sich an sein Bett und wartete, bis er eingeschlafen war. Kurz nach 22 Uhr schlich Sarah Hurter aus dem Haus. Auch ihr folgte ein Schatten.
Die nächtliche Reise führte nach Gerkingen, wo Sarah die Bodega-Bar aufsuchte. Der Verfolger ließ eine Minute verstreichen, betrat die Bar, stellte sich an den Tresen, bestellte eine Cola und bezahlte. Drei Armlängen entfernt saß Sarah auf einem Barhocker und unterhielt sich intensiv mit einem Mann, der offensichtlich auf sie gewartet hatte. Es war der Typ vom Fahndungsfoto! Der Detektiv verstand kein Wort, es war zu laut im Lokal. Aber ohne Zweifel war es ein konspiratives Treffen. Was die Hurter mit dem Kerl zu schaffen hatte, wusste er nicht. Noch nicht. Die Unterredung dauerte genau sechs Minuten. Das Paar ging an ihm vorbei. Er hörte die Frau sagen, sie müsse schnellstens nach Hause. Knapp hinter den beiden verließ auch er das Lokal. Hinter einem Baum vor dem Parkplatz fand er Deckung. Sarah nahm ein kleines Päckchen aus ihrem Auto, gab es dem Bekannten und fuhr los. Mit ein paar langen Schritten erreichte der Detektiv den Mann, der gerade in seinen Volvo steigen wollte.
»Guten Abend, Erem«, sagte er und hielt ihm seinen Ausweis unter die Nase, »Kripo Wiggenstein. Ich hätte da ein paar Fragen.«
Die Faust des Angesprochenen donnerte ins Leere. Der Detektiv hatte eine aggressive Reaktion erwartet und sein Kinn mit einer raschen Drehung in Sicherheit gebracht. Er nutzte den Schwung des Angreifers, packte seinen Arm und drehte ihn herum. Wimmernd lag Erem auf den Knien, als die Handschellen um seine Handgelenke klickten.
Fortsetzung >>>>