In dieser Nacht wälzte sich Jetti in ihrem Bett gepeinigt von wilden Träumen hin und her. Ein wildes Tier mit Renés Augen jagte sie eine Wendeltreppe hinauf, die im Nichts endete. Ein gellender Schrei begleitete ihren Fall in die Tiefe. Sie erwachte, hörte den Schrei nachhallen.
Der Lärm kam von draußen!
Hektisch sprang Jetti aus den Federn, streifte den Morgenmantel über und rannte barfuß in den Garten hinaus. Mondlicht erhellte die Nacht. Nicht weit von ihrer Terrasse stand ein alter Apfelbaum. Eine laut jammernde Gestalt lag nahe dem Stamm im Gras. Ein paar Sekunden starrte Henriette auf das bizarre Bild. Sie erkannte René. Neben ihm lagen ein Schemel und ein dicker Ast mit einem daran gebundenen Seil. Am anderen Ende des Stricks war eine Schlinge, in der Renés Hals steckte.
»Mein Bein«, wimmerte er, »Jetti, mein Bein ist gebrochen.«
Sie kauerte sich neben ihn, schaute ihm in die Augen, in denen eine abgrundtiefe Hoffnungslosigkeit zu lesen war. Den Beinbruch schien er letztendlich gar nicht mehr zu spüren, nachdem ihm bewusst wurde, dass er noch lebte. 
Sein Schrei hatte auch Sarah geweckt, die dazu kam, als Jetti René die Schlinge abnahm.
»Ich glaube es einfach nicht«, kreischte seine Mutter, »du Vollidiot, du hast doch nicht alle Tassen im Schrank!« Plötzlich sank sie auf die Knie, umarmte ihren Sohn und wimmerte: »Mein armer, armer Junge.«
Jetti hielt sich die Ohren zu.
Um drei Uhr morgens wurde René mit der Ambulanz abtransportiert.

»Mensch Heinz, da wurden wir ganz schön an der Nase herumgeführt«, rief Kommissar Wepfer. »Die englische Version würde dann »aReM« lauten, nicht wahr?«
»Naja, Vorwürfe brauchen wir uns deswegen nicht zu machen, Benno. Der Kerl wohnt in Lauern und ist noch nicht einmal vorbestraft«, erwiderte Heinz Renold.
»Seine Bekannten hier in Wiggenstein haben garantiert keine Ahnung, dass Erem in Wahrheit Roger Meier heißt. Wenn nur Initialbuchstaben ausgesprochen werden, ergeben sie den fremdartigen Vornamen Erem.« Wepfer griff sich ans Kinn. »R.M. kennt also die Hurter. Da ergeben sich ganz neue Aspekte.«
»Mhm, Meier betrügt die Hurter mit der Metteler, hängt Letzterer ein Kind an und schon haben wir das klassische Eifersuchtsdrama.«
In dem Päckchen, das R.M. von Sarah bekommen hatte, war die kostbare Schatulle mit dem angeblich gestohlenen Geld darin. Ernst Bell war also in dieser Beziehung unschuldig. Der labile Koch war zum Sündenbock gemacht worden. Er musste völlig blank vor seine Gläubiger getreten sein, sonst wäre er nicht so brutal zusammengeschlagen worden. Die Kommissare entschieden, von der Hausdurchsuchung abzusehen. René Hurters Aktion letzte Nacht kam einem Geständnis gleich.
»Der Typ ist nicht ganz richtig im Kopf«, murmelte Wepfer.
Entweder war er psychisch beschränkt oder einfach raffgierig und egoistisch. Eine herbe Enttäuschung für seine Großmutter, die das Früchtchen gutmütig ins Haus aufgenommen hatte.
Die Kommissare fuhren zum Sonnenrain und parkten vor dem prunkvollen Haupteingang der Villa Benz-von Wiggenstein. Als sie in die Nähe der Terrasse kamen, hörten sie die nörgelnde Stimme von Sarah Hurter.
»Wäre ich mit meinem Sohn nur nie in dieses Irrenhaus gezogen«, sagte sie, »dann wäre das alles nicht passiert. Die Auger hat geredet, als würde Sidonia den heutigen Morgen nicht mehr erleben. Das dumme Geschwätz hat René den Bogen gegeben. Er hängt doch so an seiner Großmutter!«
»Guten Morgen zusammen.« Wepfer und Renold traten an den Tisch, begrüßten Frau Auger und Herr Plüss per Handschlag. »Frau Hurter, wir müssen Sie bitten, uns ins Kommissariat zu begleiten. Wir haben ein paar Fragen an Sie.«
»Das können Sie doch auch hier tun!«
Wepfer trat nahe an sie heran. »Ich kann Sie auch gleich festnehmen, wenn Sie nicht freiwillig mitkommen, Frau Hurter. Gestern übergaben Sie Herrn Meier in Gerkingen die vermisste Schatulle und die gestohlen gemeldeten zwölftausend Franken. Außerdem besteht der Verdacht auf Mithilfe am Mord an Judith Mettler.«
»Was labern Sie da?! Ich kenne keinen Herrn Meier«, stieß sie hervor.
Verblüfft schauten Henriette und Otto auf.
»Da ist ein gewisser Erem aber ganz anderer Ansicht, Frau Hurter«, rief Kommissar Renold, »er freut sich schon auf eine Gegenüberstellung. Ich lege Ihnen jetzt Handschellen an und mein Kollege klärt Sie über Ihre Rechte auf.« 

Der Beinbruch war das geringste Problem, das die Ärzte beschäftigte. Psychisch befand sich der junge Mann an der Schwelle des Wahnsinns. Seit er aus der Narkose erwacht war, gab er nur unartikulierte Laute von sich oder starrte in schockartigem Zustand zur Decke. Er glaubte, er habe seine Großmutter getötet. Die Vermutung lag nahe, dass René erst jetzt begriff, was er angerichtet hatte. Sich den Tod eines Menschen ausmalen war eine Sache, das Erreichen des gedanklichen Ziels eine andere.

Irgendwie tat er Henriette Leid. Sie bekam die Erlaubnis, den Kranken zu besuchen. Der starre Blick zur Decke flackerte nicht, als Henriette sich über ihn beugte.
Nahe an seinem Ohr sagte sie leise und eindringlich: »René, ich bin’s, deine Tante Jette.«
»Jette … Tante Jetti, verzeih mir bitte. Auf einmal fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Ich war ja so ein verdammter Hornochse! Was gäbe ich drum, alles rückgängig machen zu können. Die werden mich ins Gefängnis stecken. Sobald ich wieder laufen kann, springe ich aus dem Fenster.«
»Das könnte dir so passen! Du schleichst dich nicht aus der Verantwortung, mein Lieber. Du bist deiner Großmutter eine Erklärung schuldig. Darum herum kommst du nicht, dafür werde ich sorgen.«
René schnappte nach Luft, wisperte atemlos: »Grosi Sidi lebt? Mensch, Jette, dann ist vielleicht noch nicht alles verloren. Karr mein Bett auf der Stelle zu ihr, ich muss sie unbedingt sprechen.«
Seinem Wunsch wurde nicht entsprochen, aber er bekam Papier und Kugelschreiber. Seine Schreibwut war grenzenlos. Als man ihn am Nachmittag in Untersuchungshaft nahm, hatte er die Blätter eines ganzen Blocks beschrieben und jedes Blatt umgehend zerknüllt. Das Krankenzimmer sah aus, als ob ein Hagelwetter mit faustgroßen Körnern durchgefegt wäre.
Eine Lernschwester machte sich einen Spaß daraus, die Blätter glatt zu streichen und aufzuheben. Nach Feierabend las sie das Geschreibsel. Als sie damit durch war, fühlte sie sich verpflichtet, den ganzen Bund dem Chefarzt zu übergeben, der die Papiere an Otto Plüss weiterreichte. Nach Einsicht der zerknitterten Papiere besuchte der Anwalt René in seiner Zelle im Untersuchungsgefängnis.

Aus Renés verwirrend formuliertem Text kristallisierte sich heraus, dass er ernsthaft versucht hatte, die sich anbahnende Tragödie zu verhindern. Der Anwalt glaubte ihm, zumal Roger Meier und Sarah Hurter einander gegenseitig belasteten, sich in Widersprüche und dreiste Lügen verstrickten. Nach stundenlangen, zermürbenden Verhören lag schließlich das Geständnis auf dem Tisch.
Judith Mettlers Unglück war, dass sie Sarah dabei beobachtete, wie sie das Medikament wegschüttete und mit Wasser ersetzte, tat aber so, als hätte sie nichts gesehen. Sarah musste handeln. Sie zerstach Regulas Fahrradpneus, um sicher zu gehen, dass Judith ihre tägliche Tour alleine unternahm, rannte zum Fluss hinunter und lauerte ihr mit einem Holzknüppel bewaffnet hinter einem Gebüsch auf. Nichts ahnend radelte Judith heran. Ein heftiger Schlag an ihre Schläfe genügte. Sie stürzte in die Wigge und versank mitsamt dem Fahrrad im Wasser.
Aufatmend wandte Sarah sich ab und stand plötzlich ihrem Freund gegenüber, der mit Judith verabredet gewesen war. Sie erfuhr, dass Erem sie mit Judith betrogen und sie geschwängert hatte. Er meinte trocken, er habe ihre ruchlose Tat nicht verhindert, weil sie damit sein Problem gelöst habe, denn Judith wollte das Kind behalten.

Durch seine Mutter aufgehetzt, war René anfänglich durchaus dafür, mein Ableben zu beschleunigen. Als er mich näher kennen lernte, spürte er zum ersten Mal in seinem Leben echte Zuneigung, fühlte sich angenommen und gewann mich lieb. Der Junge hatte nie ein richtiges Zuhause, wurde wie eine Sache mal hierhin, mal dorthin abgeschoben.
Da es seiner Mutter im Hause Benz-von Wiggenstein blendend ging, dachte er, sie habe ihren mörderischen Plan begraben. Doch sie wollte alles haben, hätte beinahe reüssiert. Als alleiniger Erbe wäre René der reichste Mann weit und breit gewesen und seine Mutter hätte vom Reichtum profitiert.
Mit meinem Herzschrittmacher fühlte ich mich wie neugeboren. Als Erstes sorgte ich dafür, dass mein Enkel seinen rechtmäßigen Namen Benz bekam. Die Zukunft sah rosig aus. Mit einer unglaublichen Verbissenheit stürzte René sich in die Arbeit, holte die Matura nach, studierte Jurisprudenz und wurde unter den Fittichen von Otto Plüss zu einem großartigen Anwalt.
Dr. René Benz heiratete eine liebe Frau, die ihm zwei Kinder schenkte.
Ich war die glücklichste Urgroßmutter der Welt!
Henriette und ich feierten bei bester Gesundheit unseren neunzigsten Geburtstag im Kreise einer großen, wunderbaren Familie.

Ende

 

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