Immer, wenn es brenzlig wird für mich, meldet sich Marlene. Die ganze Woche über hält sie mich auf Trab. Manchmal taucht sie schon am Mittag auf, bleibt dann nur für einen Smalltalk. So habe ich gar keine Gelegenheit, mich auf mein widerliches Vorhaben zu konzentrieren. Ganz habe ich die schreckliche Idee noch nicht aufgegeben. Etwas in mir bleibt stur.
Am Sonntag wiederholen wir den gelungenen Ausflug zum See. Diesmal klappte der Einkauf reibungslos. Wir haben bereits Übung.  Früh machen wir uns auf den Weg, damit wir unseren Baumplatz für sicher besetzen können. Nach wie vor dümpelt die Yacht im Wasser. Wir machen im Gegenlicht drei Personen aus, die auf dem Sonnendeck sitzen. Während Marlene vor dem Mittag eine Runde schwimmt, wate ich dem Ufer entlang bis zum Steg, der ziemlich weit in den See hinausgebaut ist. Dort ist das Wasser tief genug, damit Schiffe anlegen können. Ich spaziere über den Steg bis zum Ende, setze mich hin und lasse die Beine über den Abgrund hängen. Die Leute auf der Yacht scheinen einen Disput auszutragen. Wie kann man nur bei dem schönen Wetter streiten, denke ich missbilligend. Kopfschüttelnd stehe ich auf, sehe Marlene aus dem Wasser winken. Nein, heute habe ich keine Lust auf ein Schwimmabenteuer. Dafür bereite ich wieder alles für unseren Mittagsschmaus vor. Marlene dankt es mir mit einem süßen Lächeln.

Nach dem Essen gräbt sie den Feldstecher aus der Tasche und gafft in der Landschaft umher. Sie ist glücklich wie ein kleines Kind. Andauernd macht sie mich auf Kuriositäten, auf kleine Wunder, die einmalige Landschaft, die sie in Abschnitten durch die Gläser einfängt, aufmerksam. Alles will sie mit mir teilen, nichts schaut sie nur für sich an. Sie ist ein echtes Zwillingskind!
Ihr Augenmerk ist jetzt auf die Yacht gerichtet. Marlene ist ganz still geworden. Ich werde unruhig.
»Eigenartig.« Sie brummelt vor sich hin, stellt das Fernglas noch genauer ein. »Ich könnte schwören ..., aber das kann ja gar nicht sein!«
»Was kann nicht sein, Marlene?«
»Warum eigentlich nicht? Bei ihr ist alles möglich.«
»Könntest du zur Abwechslung mal Klartext reden, bitte. Was siehst du denn, oder besser gesagt, WEN hast du auf dem Korn? Beobachtest du etwa die Leute auf der Yacht? Findest du das nicht ziemlich indiskret?«
»Mag schon sein, dass es indiskret ist, aber weißt du, die Frau da auf dem Boot sieht aus wie eine Tante von mir.«
»Ach, machst du Witze? Zeig mal her, ich schau sie mir an und sage dir, ob es deine Tante sein kann.«
»Och, sie sieht mir gar nicht ähnlich, wenn du das meinst. Da, guck mal.«
Bis ich mir den richtigen Blickwinkel zurechtgefummelt habe, ist das Deck der Yacht leer.
»So ein Pech aber auch! Sie sind weg, Marlene.«
Natürlich lauern wir darauf, dass wieder jemand auftaucht, und wir unsere Beobachtungen fortsetzen können. Beiläufig erzähle ich Marlene, was mir vor dem Essen aufgefallen ist. Auch Marlene hat bemerkt, dass das Trio nicht friedlich beieinander saß. Wir fragen uns, was der Streit wohl ausgelöst haben könnte und verrennen uns in wilde Spekulationen.

Die Tante genießt offenbar nicht den besten Ruf bei Marlenes Familie, doch Marlene findet, sie hätte eine Chance verdient. Vor einem Jahr, erinnert sie sich, tauchte die Tante unverhofft bei ihnen zu Hause auf.
»Tante Charlotte ist die jüngste Schwester meines Vaters und ich sage dir, Benny, sie sah einfach blendend aus. Sie ist eine aufgestellte Person, und meine Schwester und ich finden sie ganz toll!«
Weshalb man von ihr nur hinter vorgehaltener Hand spricht, ist Marlene schleierhaft. Sie sah Tante Charlotte nur etwa drei Mal in ihrem Leben, kennt sie also kaum. Das Interesse, mehr von ihr zu erfahren, flachte schnell ab, da sie nach dem kurzen Besuch keinen Kontakt mehr zur Familie pflegte. Aber jetzt ist Marlenes Neugier erwacht. Sie ist sich nicht ganz sicher, ob es sich bei der Person auf dem Boot wirklich um Tante Charlotte handelt. Doch gerade das möchte sie jetzt unbedingt herausfinden.
Auf der Yacht tut sich etwas. Einer der beiden Männer, es muss der ältere sein, steht an der Reling. Sofort reißt Marlene den Feldstecher hoch, meldet nach einigen Sekunden, der Typ sehe griesgrämig aus. Ja, ja, denke ich, döse vor mich hin, fühle mich rundum wohl. Der Mann ist wieder im Bauch der Yacht verschwunden, stellt Marlene ärgerlich fest. Anstatt, dass die anderen hochkommen. Die Frau soll sich zeigen, verflixt und zugenäht.
Nach einer Weile macht Marlene mich darauf aufmerksam, dass das Boot so eigenartig schaukelt, obwohl das Wasser wie ein seidenes Tuch ruht. Das kommt mir allerdings auch komisch vor. Ich richte mich auf, lehne an den Baumstamm, um besser beobachten zu können. Ungewollt drängen sich mir Gedanken auf, die nicht gerade anständig sind. Ich behalte sie wohlweislich für mich.
Die vielen Menschen, die sich auf der Wiese und im Wasser vergnügen, kümmern sich nicht um die leicht schwankende Yacht. Die Bewegung ist nicht so auffällig, dass sie gleich jeder bemerkt, ohne speziell darauf zu achten. Nach einer endlos langen Weile taucht der jüngere der beiden Männer auf. Es macht den Anschein, als ob er betrunken wäre. Das sehe ich auch ohne Fernglas.
»Was ist denn mit dem los?«, murmelt Marlene. »Weißt du was, Benny, ich glaube, der ist verletzt!«

Plötzlich kommt aus dem Rumpf des Schiffes eine Flasche geflogen. Haarscharf am Kopf des jungen Mannes vorbei macht sie einen eleganten Bogen und klatscht ins Wasser. Ohne sich umzusehen, rennt der Mann auf die Backbordseite und hechtet kopfüber in den See. Bange Sekunden später taucht er auf und krault wie ein Irrer auf den Landesteg zu.
Marlene und ich sind aufgesprungen. Wir kommen uns vor wie bei einer Filmvorführung. Der Nervenkitzel hat uns gepackt. Ein paar Leute sind aufmerksam geworden, doch da weiter nichts geschieht, flaut das Interesse ab. Jeder wendet sich wieder seiner eigenen Tätigkeit zu.
Der Mann schleppt sich hinter dem Steg keuchend im seichten Wasser auf das Ufer zu. Einen Moment lang bleibt er stehen, ringt sichtlich nach Luft. Danach entfernt er sich mit schlurfenden Schritten, verschwindet aus unserem Gesichtsfeld.
»Sollte man nicht nachsehen, ob er Hilfe braucht?«
Marlene ist ganz aufgeregt. Ich bin nicht dafür, mich in die Querelen dieser Dreierkiste einzumischen. Sie sieht das ein und legt den Feldstecher enttäuscht beiseite.
Um sie auf andere Gedanken zu bringen, schlage ich vor, Tischtennis zu spielen. Wir haben Glück und brauchen nicht lange zu warten. Eine ganze Stunde hetzt sie mich hin und her, ist mit Feuereifer bei der Sache. Heute kontere ich nicht schlecht, doch immer noch nicht gut genug, um sie zu schlagen. Ich bin froh, dass schon ein Pärchen auf die Freigabe des Tisches lauert, so können wir die uns gegebene Zeit nicht verlängern. Während Marlene die Schläger zurückbringt, räume ich unsere Sachen ein wenig zusammen, mache Ordnung und laufe Gefahr, in meine trübe Gedankenwelt abzudriften. Aber schon ist der Wildfang zurück und bettelt, weil es doch unser letztes, gemütliches Treffen dieser Art ist, noch länger zu bleiben. Sie geht schwimmen, bedrängt mich nicht, sie zu begleiten, denn sie hat begriffen, dass mir heute jegliche Motivation fehlt, mich in die Fluten zu stürzen.

Das Gerangel auf der Wiese hat nachgelassen. Nur noch wenig Menschen genießen die Ruhe in der sinkenden Abendsonne. Der See leuchtet rot wie Blut, und die Yacht ist in ein diffuses Licht getaucht. Es wird immer stiller. Hinter dem Wasser erheben sich die Berge, rufen Sehnsüchte in mir wach. Fortgehen, weg von Mühsal und Kampf ums Überleben. Den ewigen Trott hinter sich lassen. Dort, in den fernen Bergen eine Höhle finden, in der freien Natur die Sinne lüften, mich läutern, befreien von diesem unsinnigen Hass, der mir die Luft zum Atmen nimmt.
»Ich habe Hunger.«
Bibbernd und zähneklappernd steht sie vor mir. Ein Wesen von einem anderen Stern. Die Lippen sind blau, doch ihre Augen lachen. Mühsam rapple ich mich auf, reiße mich los von der rettenden Ferne, in die ich doch nicht flüchten werde. Energisch rubble ich Marlenes Gänsehaut glatt. In ihre Wangen schießt warmes Blut, der Mund schimmert rosa, feucht und sinnlich.
»Oh, tut das gut! Mach weiter, Benny, am Rücken ist mir noch kalt.«
»Was bleibst du auch so lang im Wasser. So was Unvernünftiges!«
Marlene nimmt ihre Tasche, geht in die Umkleidekabine, föhnt die Haare, macht sich für das Abendessen im Strandcafé zurecht. Auch ich hole das Bestmögliche aus mir heraus. Frisch poliert und guter Laune treffen wir uns am Eingang zum Café.
Das Essen verläuft in besinnlicher Stimmung. Beide nehmen wir Abschied von diesem Tag, der uns vom Schicksal geschenkt wurde. Die letzte Kurswoche wird streng für Marlene, wir werden uns kaum sehen können. Sie wird das Gelernte unter Beweis stellen müssen, wird üben, repetieren und eine Abschlussprüfung absolvieren. Am Freitag wird die Klasse mit Champagner feiern, den der Lehrer für dieses Ereignis schon lange parat hat.
Ja, ja, und ich, ich werde Trübsal blasen ...
Sie hat mir gesagt, welchen Zug sie am Samstag nimmt. Ich habe nichts versprochen, weiß noch nicht, was dann sein wird.

Rundum satt verlassen wir das Lokal. Es ist bereits acht Uhr abends, aber noch hell und warm. Zum Adieu sagen ist es noch zu früh. Wir spazieren über den Rasen, an unserem Baum vorbei zum Steg. Weit führt er in den See hinaus, und wir gehen bis zum Ende, hören das Wasser unter uns glucksen, sehen kleine Fische springen. Samtweich sieht die Fläche des Sees aus. Immer noch dümpelt die Yacht vor Anker.
Schon zum zweiten Mal sitze ich hier auf dieser letzten dicken Planke und lasse die Füße baumeln. Doch diesmal bin ich nicht allein.
Marlene beugt sich vor, neigt ihren Kopf zu mir und sagt: »Komm, Benny, rück näher und schau dir das an.«
Gehorsam nehme ich Tuchfühlung auf, lege meine Wange mit vorgestrecktem Kinn an ihre.
Zwei Menschen blicken uns aus der Tiefe an. Ein fröhlich grinsendes Gesicht, und eines, das mir irgendwie fremd vorkommt; doch ich weiß, das bin ich. Das Spiegelbild ist klar, wirkt wie eine Fotografie. Schmatzend sammelt Marlene ihren Speichel, spuckt hinunter. Der Klumpen trifft die glatte Oberfläche, zersprengt das Bild, und es läuft in winzigen Wellen zitternd auseinander. Skurrile Reste unserer Abbildung, Fragmente von Armen wabern durcheinander, fügen sich zögern erneut zum Ganzen.
Da ist es wieder, unser Konterfei.
Übermütiges Lachen, das auch mich packt, dröhnt durch die weiche Luft, hallt noch lange in unseren Ohren nach. Ein Vogel antwortet dem menschlichen Klang, schmettert und trällert sein eigenes Lied in den Abendhimmel hinaus.
Plötzlich packt Marlene mich am Arm. Erschrocken schnappe ich nach Luft. Ihre Hand schießt vor, der Zeigefinger sticht wie eine Natter Richtung Yacht.
»Vielleicht finden wir doch noch heraus, ob es meine Tante ist! Das wäre glatt der Hammer!«
Ein Beiboot wird zu Wasser gelassen. Über eine am Schiff angebrachte Leiter klettert das Paar nacheinander hinab. Der Mann rudert, uns den Rücken zugekehrt, direkt auf unseren Steg zu. Ärgerlich zieht Marlene die Stirne kraus, kramt den Feldstecher hervor. Die Frau trägt ein Kopftuch, kunstvoll gebunden. Außerdem versteckt sie ihr Gesicht unter einer großen Sonnenbrille, wo doch gar nichts mehr blendet um diese Zeit! Nicht einmal durch die scharf eingestellten Gläser kann Marlene die Identität der Person feststellen.
»Hab noch ein wenig Geduld, Marlene. Sie müssen hier irgendwo anlegen, vielleicht sogar direkt bei uns.« Aufmunternd tätschle ich ihren Rücken.
»Na mach schon, Alter, schmeiß dich in die Ruder, gib Gas!«, feuert Marlene den schwergewichtigen Mann zwischen zusammengebissenen Zähnen halblaut an.
»Jetzt, wo ich sie besser sehen könnte, ist mir der Kerl andauernd im Weg«, schimpft Marlene und legt das Fernglas in die Tasche zurück.

Wir stehen auf, gehen ein paar Schritte zur Seite, denn es scheint, dass sie am Steg festmachen wollen. Von hier aus haben wir eine gute Übersicht und versperren den Leuten nicht den Weg. Unser Ausharren wird belohnt. Schon bald erscheint die Silhouette des Mannes über den massiven Bohlen. Er reicht der Frau die Hand, hilft ihr hinauf. Marlenes starre Erwartungshaltung ein wenig belächelnd, schaue ich zu, ohne die zwei Personen wirklich zu beachten.
»Tante Charlotte?«
Marlene macht entschlossen einen Schritt auf sie zu.
Lässig nimmt die Frau die dunkle Brille ab. Ein süffisantes Lächeln gefriert augenblicklich in ihrem schönen Gesicht, als sie mich wahrnimmt.
Zuerst wird mir bewusst, wo ich den Mann schon gesehen hatte, dann erst realisiere ich, dass meine Frau vor mir steht.
»Oh, Pech gehabt. Es tut mir Leid, Sie sind es nicht, aber es hätte ja gut sein können, nicht wahr?«, höre ich von weit her Marlene plappern.
»Sandra ...«, meine Stimme ist ganz leise, doch ich habe das Gefühl, den Namen laut gebrüllt zu haben.
Der Mann sieht mich überrascht an.
»Ihr kennt euch?«, sagt er mit frostiger Stimme, schaut Sandra mit zusammengekniffenen Augen an.
»Ja ...«, tönt es vage aus ihrem Mund.
»Du bist immer noch meine Frau, Sandra«, erinnere ich sie an unsere gescheiterte Ehe und wundere mich, wie gelassen ich diese Worte von mir gebe.
»Du bist verheiratet?«, bringt er hervor. »Diese infame Lügnerin ist ihre Frau? Habe ich das richtig verstanden?“ Seine Stimme überschlägt sich, er zittert vor verhaltener Wut.
Mit offenem Mund steht Marlene dabei, gafft hin und her, sucht nach Worten, schnappt nach Luft. Ich muss mich auch beherrschen, denn ich bin völlig unvorbereitet, obwohl ich mir eine solche Situation in allen Varianten immer wieder vorgestellt habe.
»Ja, mein Herr, wir sind seit zehn Jahren verheiratet, doch vor einem halben Jahr hat sie mich verlassen, einfach so, aus heiterem Himmel ...«
Meine Stimme klingt hölzern.
Rank und schlank, elegant wie immer, mit einem Hauch von Hochmut im Gesicht, steht Sandra zwischen uns, die Lippen herausfordernd geschürzt. Das einfache, doch überaus raffinierte Kleid umfließt ihren geschmeidigen Körper, gibt ihre langen schlanken Beine bis oberhalb der Knie frei und die hochhackigen Sandalen unterstreichen den Hauch von Verruchtheit, der sie umgibt.
»Unsere Ehe war doch nichts als eine Farce, ein bedauerlicher Irrtum, das weißt du doch selber, Bernhard.«
»Da hast du Recht, meine liebe Sandra, das sehe ich jetzt auch so.« Innerlich bin ich am Explodieren, doch äußerlich die Ruhe selbst. »Was habt ihr eigentlich mit deinem jungen Liebhaber angestellt? Er schien mir in keiner guten Verfassung zu sein, als er an uns vorüberwankte. Ich nehme an, das war der Sohn deines Goldesels, oder täusche ich mich, Sandra?«
Ich wachse über mich selbst hinaus, finde einen Ton, der trieft vor Hohn. 
Der steinreiche Mann sieht im Moment eher wie ein armer Schlucker aus. Sein feistes Gesicht wird grünlich. Die Farbe wechselt auf rot, dann weiß, und er holt aus.
»Du verdammtes Miststück«, geifert der Betrogene und seine Pranke schrammt über ihren Mund.
In Gedanken habe ich mitgeholfen, Zunder hinter die Faust gelegt.
Er hat getan, was ich nie fertig gebracht hätte.
Wie angenagelt fühle ich mich, nicht in der Lage, auch nur einen Finger zu rühren. Ich habe mir in den langen Nächten diesen Moment ganz anders vorgestellt.
Fassungslos beobachtet Marlene das Geschehen. Sprachlos ist sie, was selten vorkommt.
Es geht alles rasend schnell.
Mit einem Urschrei, der uns alle bis ins Mark trifft, greift Sandra sich an die blutenden Lippen. Sie wirft sich herum, will davonlaufen, doch ein Absatz der teuren Sandalen bleibt zwischen zwei Planken stecken. Sie wird herumgeschleudert, ihr Kopf knallt gegen einen runden Stützpfeiler, der über den Steg hinausragt. Die Lederriemen am Schuh zerreißen, sie fällt auf das angelegte Ruderboot, kippt ins Wasser, geht unter.
Ihr Freund, der sie zurückhalten wollte, verliert das Gleichgewicht und fliegt in hohem Bogen hinterher. Jappend kommt er aus den Fluten hoch, zappelt im Kreis, krallt sich an einem Ruder fest, das aus seinem Beiboot hängt.

Ein plötzlicher Impuls löst meine Starre, und ich rase vorwärts, fliege wie ein Vogel durch die Luft, klatsche in den See. Nur ein einziger Gedanke beflügelt meine Sinne: Ich muss sie retten, sie ist immer noch meine Frau! Dann wird es schwarz um mich.
Als ich die Augen aufschlage, sehe ich in das besorgte Gesicht meiner kleinen Freundin.
»Was ist passiert?«, murmle ich, fühle mich elend, erschöpft und ausgelaugt.
»Ich glaube, du wolltest deine Frau vor dem Ertrinken retten, wo du doch so gut schwimmen kannst ...«
»Und?«
»Nichts und. Du wärst beinahe selber ersoffen, du eigensinniger Hampel«, ruft sie burschikos. Ihre Augen glitzern verräterisch, eine Träne der Erleichterung stiehlt sich über ihre Wange.
»Ich bin Rettungsschwimmerin. Habe mir soeben meine erste Medaille geholt.«
Stolz präsentiert sie mir die glänzende Scheibe.
»Weißt du, Benny, du hast mich ganz schön gefordert. Ich habe festgestellt, dass es ein mordsmäßiger Unterschied ist, wenn jemand wirklich in Lebensgefahr ist oder man das nur übt, mit einem Opfer das bloß so tut, als ob.« Sie streichelt mir zärtlich die nassen Haare aus der Stirn, deutet wortlos auf die zugedeckte Bahre, die ein paar Meter neben uns im Gras liegt.
Ein pudelnasser Mann kniet daneben, weint hilflos, klagt sich selber an. Immer wieder sagt er: »Das wollte ich nicht, Sandra. Wach auf, bitte, verlass mich nicht!«
Der Sanitäter fragt mich, ob ich mich wohl genug fühle, um aufzustehen. Es kostet mich große Überwindung, doch ich schaffe es aus eigener Kraft. Meine Beine wackeln bedenklich, aber es klappt.
Mir geht es erstaunlich gut. Ich erhole mich schnell vom Schock, fühle mich unsagbar leicht, ja, beschwingt und frei!
Ich bin kein Mörder!, jubelt eine Stimme in mir.
Die Leiche wird abtransportiert. Und ein gebrochener Mann kommt vorläufig in Spitalpflege.

Sandra war tot, bevor das Wasser über ihr zusammenschlug. Beim Aufprall auf das Beiboot brach sie sich das Genick. Die Untersuchungen waren rasch abgeschlossen. Es fand keine Anklage statt. Im Polizeirapport wurde nüchtern ein bedauerlicher Selbstunfall beschrieben.

Der Zug rollt donnernd in den Bahnhof ein. Wieder stehen Marlene und ich am Fenster. Die Zwillingsschwester schwenkt  einen Blumenstrauß, rennt unter unserem Fenster mit, bis die Bremsen des Zugs kreischend greifen.
Meine Fahrt ins Ungewisse ist beendet, der Abschied vollzogen. Die Urne in meinem Gepäck ist weiter nichts, als ein Gefäß, das ich in meinem Garten hinter den Teich unter das Schilf stellen werde.
Während der Zug durch die Landschaft brauste, öffnete ich die Versiegelung und streute Sandras Asche in den Fahrtwind. Marlene bemerkte nichts davon. Für einmal passte sie nicht auf, hat meine ruchlose Tat verschlafen.
Mir ist wohl bei dem Gedanken, Sandras ruhelose Seele befreit zu haben.
Ende

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