Balsam fürs Herz
von Roswitha Wegmann©


»Wie fühlen Sie sich, Frau Benz-von Wiggenstein? Ihre Freundin ist gekommen. – Fünf Minuten!« Die Krankenschwester tippte mit dem Zeigefinger auf ihre Armbanduhr und verließ das Zimmer.
»Na du?! Ich habe ganz schön um dich gebibbert, meine Liebe.«
»Tut mir Leid, Jetti. Das Herz hat mir einen Streich gespielt. Die offene Grube war einfach zu viel für mich.«
»Erinnere mich bloß nicht daran, Sidi! Hätte Otto Plüss nicht so super reagiert, wären wir zusammen hinunter gefallen. Ich verlor das Gleichgewicht, als ich dich auffing.« Henriette Auger schaute mich prüfend an. »Du warst zwei Tage  und Nächte auf der Intensivstation. Weißt du, wie lange sie dich hier behalten?«
»Eine Woche, denke ich. Am liebsten käme ich gleich jetzt mit dir nach Hause, aber der Arzt meint, ich dürfe die Attacke nicht auf die leichte Schulter nehmen.«
»Recht hat er, Sidonia! Mach dir keine Sorgen, daheim läuft alles bestens. Oh, die Schwester kommt, ich muss mich verabschieden.

Sein Tod kam nicht unerwartet. Und doch riss er ein gewaltiges Loch an meiner Seite auf. Im letzten Halbjahr seines Lebens wurde er zusehends schwächer. An seinem neunzigsten Geburtstag flackerte sein Lebenslicht noch einmal hell auf. Er genoss die Feier, nahm die Ehrenbezeugungen der Wiggensteiner mit vornehmer Zurückhaltung entgegen, freute sich am Kinderchor, der ihm ein Ständchen brachte, ließ sich im Rollstuhl durch den Park schieben, um allen, die seinetwegen gekommen waren, zuzuwinken.
Es war sein letztes rauschendes Fest.
Wenige Tage später sagte Gerhard am Abend zu mir: »Liebste Sidonia, weißt du, dass ich dich immer noch liebe wie am ersten Tag? Ich fühle mich leicht wie ein Vogel, es geht mir so gut wie lange nicht mehr.«
Sachte küsste ich seine welken Lippen, die Wangen, die Stirn und die nun geschlossenen Augen. Ich nahm seine ausgemergelte Hand, die einst so stark war, kuschelte mich an seinen ausgetrockneten Körper, den ich auch noch im Zustand der Auflösung liebte. Mein Ohr lag an seinem Herzen, das immer langsamer schlug. Gebannt lauschte ich, machtlos das Fliehen des Lebens bewusst erlebend. Ein tiefer Schnaufer, ein leises Aufstöhnen, das Pochen blieb aus, das Herz stand still.
Ich rührte mich nicht, hoffte, meine Seele würde der seinen folgen. Mit offenen Augen starrte ich in die Dunkelheit. Auf einmal war mir, als schäle sich seine Gestalt nebelhaft verschleiert aus der Finsternis. Einen Atemzug lang lächelte Gerhard mich an, die Vision entschwand und ich war allein mit meiner Angst, die mir plötzlich einen Ring der Kälte um die Brust legte.

Beklagen will ich mich nicht. Mit zwanzig heiratete ich meinen dreißig Jahre älteren Traummann Gerhard Benz, war vierzig Jahre glücklich mit ihm, vom ersten bis zum letzten Tag. Wir teilten Freude und Leid, meisterten schwierige Phasen des Lebens indem wir offen miteinander sprachen. Gerhard ich waren die letzten Nachkommen der zwei einst mächtigsten Dynastien. Als Edgar geboren wurde, war unser größter Wunsch erfüllt. Leider musste unser Sohn ohne Geschwister aufwachsen, da ich nach der schweren Geburt keine Kinder mehr bekommen konnte. Edgar entwickelte sich prächtig, wurde ein guter Schüler, machte uns keine Sorgen.
Bis zu seinem siebzehnten Lebensjahr.
Edgar schwängerte eine junge Frau namens Sarah Hurter. Völlig verzweifelt vertraute er sich mir an, sagte, er sei hereingelegt worden und schäme sich in Grund und Boden, so unglaublich naiv gewesen zu sein. Wäre er ein armer Schlucker gewesen, hätte sich die Frau nicht an ihm herangemacht, das habe Sarah unverblümt zugegeben.
Wir entschlossen uns, die Angelegenheit mit unserem Anwalt Dr. Otto Plüss zu besprechen. Der junge Anwalt ging mit pedantischer Gründlichkeit ans Werk. Es stellte sich heraus, dass Sarah Hurter mit der Angabe ihres Alters geschummelt hatte und dem unerfahrenen Edgar weismachte, sie sei gerade achtzehn geworden, dabei war sie schon fünfundzwanzig. Sie sah wirklich unglaublich jung und unverdorben aus; ich hätte ihr die Lüge auch abgenommen, gestand ich mir insgeheim ein und verstand meinen Sohn. Sie sei ein gefragtes Fotomodell und habe bereits im Filmgeschäft Fuß gefasst, plagierte sie mit großer Überzeugungskraft.
Tatsächlich existierten ein paar Postkarten, auf denen Sarah Hurter im Bikini abgebildet war. Das war aber auch schon alles, was sie als Fotomodell auszeichnete. Als Hauptdarstellerin in rein pornographischen Filmen hingegen erreichte sie einen beachtlichen Berühmtheitsgrad, war bereits seit vier Jahren im Geschäft. Sie hatte die Nase voll, wollte aussteigen, suchte nach einer Möglichkeit, materielle Sicherheit zu finden. Edgar verliebte sich in diese Frau, die ihn äußerst raffiniert in ihren Bann zog.
Sieben Wochen vor Edgars achtzehnten Geburtstag erblickte der kleine René das Licht der Welt. Ein Vaterschaftstest bewies, dass wir einen Enkel bekommen hatten. Leider war Sarah nicht bereit, auf das Baby zu verzichten, und wir mussten uns damit begnügen, Mutter und Kind finanziell zu unterstützen.
Drei Wochen nach der Geburt unseres Enkels, an einem herrlichen Sommertag, verdüsterte sich der Himmel plötzlich, ein Gewitter zog auf. Das Gerümpelturnier hatte viele Zuschauer angelockt. Edgar erzielte gerade das Siegestor, als ihn der Blitz erschlug.
Vor unseren Augen.

Im Hause Benz-von Wiggenstein wurde es sehr still. Ich kam mir nutzlos vor, zog mich in mich selbst zurück mit dem Gefühl, versagt zu haben. Gerhard zog alle Register, mir meinen Lebensmut zurückzugeben. Inzwischen war er zweiundsiebzig, hatte viel Zeit, sich um mich zu kümmern. Gemeinsam leisteten wir Trauerarbeit, doch ich blieb melancholisch, klammerte mich an ihn wie eine Ertrinkende. Tief in mir brannte der Wunsch, wenigstens den Enkel bei mir zu haben, doch seine Mutter brach jeglichen Kontakt zu uns ab, als Edgar gestorben war, strich nur die Alimente ein, die ihr ein angenehmes Leben sicherten. Sarah Hurter war raffiniert genug, sich nichts zu Schulden kommen zu lassen, was uns das Recht gegeben hätte, ihr das Kind wegzunehmen.
In der düstersten Zeit meines Daseins meldete sich meine gleichaltrige Schulfreundin, die ihr halbes Leben bei Hilfsorganisationen in Krisengebieten im Ausland tätig gewesen war. Jetzt, mit zweiundvierzig, hatte sie genug von dem Elend, das sie mit geringem Erfolg zu bekämpfen half. Durch ihre anspruchsvolle Tätigkeit vernachlässigte sie ihre eigenen Bedürfnisse, fand keine Zeit, eine Beziehung aufzubauen und eine Familie zu gründen. Henriette Auger war schon immer eine Einzelgängerin gewesen. Ich war die Einzige, der sie sich öffnete und eine echte Freundschaft zuließ. Auch als sie im Ausland weilte, riss der Kontakt nie gänzlich ab. Wir schrieben uns regelmäßig.
Mein Mann brauchte nicht viel Überredungskunst, Henriette in unser Haus zu verpflichten. Es war ein kluger Schachzug Gerhards, ihr die Führung des Haushalts anzubieten und nebenbei als meine Gesellschafterin zu fungieren. Letzteres war sein größtes Anliegen, doch nur dafür hätte sie keinen Lohn angenommen.
Henriette, von mir liebevoll Jetti genannt, bezog die große Wohnung mit Gartenterrasse neben dem Küchentrakt im Parterre unserer riesigen Villa im vornehmen Stadtviertel Sonnenrain am Rande der Stadt Wiggenstein. Gerhard und ich hatten im oberen Stock, der über eine breite geschwungene Treppe erreicht wurde, neun Zimmer zur Verfügung, kamen uns nun weniger verloren vor, seit sie im Haus war.
Zehn Angestellte, die für den gesamten Haushalt und die Pflege des Parks und Gartens verantwortlich waren, wohnten im fünf Gehminuten vom Herrenhaus entfernten Gesindehaus. Die Koordination der anfallenden Arbeiten sowie die Führung des Haushaltbuches, war nun Jettis Aufgabe.
Es dauerte nicht lange, und ich erhaschte Einblick in neue Perspektiven, überwand meine Trauer um unseren einzigen Sohn dank Henriettes Frohsinn. Sie brachte Schwung in die Bude, motivierte  mich mit sensiblem Gespür aus meinem Schneckenhaus zu kriechen, die Fühler wieder neugierig auszustrecken. Gerhard und ich erlebten einen zweiten Frühling, machten Ausflüge, nahmen wieder an gesellschaftlichen Anlässen teil.
Ja, und nun war mein Gerhard von mir gegangen. Ende Februar, kurz nach seinem neunzigsten Geburtstag, entschwand seine treue Seele aus dem geschwächten Körper. An seinem Grab wurde der Wunsch, ihm zu folgen übermächtig und mein Herzschlag setzte einen Moment aus, doch man ließ mich nicht gehen.
Ich war die reichste Frau weit und breit. Doch alles was mir geblieben war, waren materielle Güter im Überfluss. Was ich ohne meine Freundin getan hätte, weiß ich wirklich nicht …
Jetti verstand es blendend, mich über meinen Verlust hinwegzutrösten. Es war mir klar, dankbar sein zu müssen, dass Gerhard ohne allzu lange Leidenszeit gehen durfte. Wir hatten eine wunderbare Zeit zusammen. Ich war eine gesunde, gut aussehende sechzigjährige Frau, die den Kopf nicht in den Sand stecken durfte. Seit meinem Herzanfall musste ich zwar regelmäßig Tropfen nehmen, doch sonst war ich topfit. Mein Hausarzt Doktor Schramm betonte eindringlich, wie wichtig es für mich sei, die Tropfen über einen längeren Zeitraum ganz pedantisch einzunehmen, auch wenn ich den Eindruck hätte, sie nicht mehr zu benötigen. Die kleinste Nachlässigkeit diesbezüglich könne böse Folgen haben, warnte er mich.
Wehmütig schaute ich die wunderbare Schatulle auf meinem Nachttisch an, die Gerhard mir zu meinem sechzigsten Geburtstag geschenkt hatte. Aus einer Laune heraus verwahrte ich seit seinem Tod nur noch meine lebenswichtigen Herztropfen darin. Gewissenhaft zählte ich die Tropfen in ein Glas ab, gab wenig Wasser dazu, trank aus, stellte das Fläschchen zurück und klappte den Deckel des exklusiven Schmuckkästchens zu. Ich verließ das Schlafzimmer und setzte mich zu meiner Freundin, die geduldig auf mich gewartet hatte. Unser Gespräch wurde bald  durch ein zaghaftes Klopfen an der Tür unterbrochen.
»Verzeihung, Frau Benz-von Wiggenstein«, das Hausmädchen steckte den Kopf durch den Türspalt, »da ist ein junger Mann, der Sie sprechen möchte. Äh, er will den Namen nicht nennen – und er lässt sich nicht abweisen.«
Erstaunt blickte ich auf, wandte mich meiner Freundin zu, schaute sie fragend an.
»Ich kümmere mich darum, Sidonia. Komm, Judith, gehen wir hinunter.«
Das Zimmermädchen bedankte sich bei Madame Auger, ging ihr sichtlich erleichtert voran durch die obere Halle, die Treppe hinunter, eilte durch die große Halle zum Eingang, wo der Besucher im Entree wartete.

Fortsetzung –––>>>>