An der Hauswand kauernd hörte ich Worte wie durch Watte in mein Bewusstsein dringen. Dankbar ließ ich mir helfen, froh um den starken Arm, an den ich mich klammern konnte. Meine Beine zitterten erbärmlich.
»Beruhigen Sie sich, wir sind von der Polizei. Sind Sie verletzt?«
»Nein, ich glaube nicht.«
»Ich bin Kommissar Kevin Stoller und das ist Kripochef Martin Schläpfer. Wie heißen Sie?«
»Zappa, Angela Zappa.«
»Du meine Güte, schau dir das an, Martin«, brummte Stoller, »das Messer steckt in der Tasche.«
Vorsichtig nahm er mir meine Handtasche ab. Das Messer steckte bis zum Griff darin, der Klingenspitz schaute auf der Rückseite ein Stück heraus. Mir wurde schlecht. Ein stinkender Schwall ergoss sich aus meinem Magen, platschte an die Hauswand, rann auf den Boden.
Mein tierisches Gebrüll hatte etliche Anwohner aus ihrer Gemütlichkeit gerissen. Fenster gingen auf, Leute traten auf den Steig hinaus. Ein Mann war mit einer Schrotflinte bewaffnet. Meine beiden Beschützer, barfuß, im Judogi mit schwarzem Gurt, klärten die Lage mit wenigen Worten. Halbwegs enttäuscht zogen sich die hilfsbereiten Menschen in ihre warmen Stuben zurück. Stoller legte sachte den Arm um mich, führte mich in den Aufenthaltsraum des polizeieigenen Dojos. Er kam mir bekannt vor, aber einordnen konnte ich ihn nicht.
Stocksteif saß ich auf der Bankkante, spürte tief in mir ein Zittern, das sich langsam, aber stetig, ausbreitete. In meinem Kopf dröhnte ein Klappern und Rattern, das mich an eine alte Nähmaschine erinnerte. Es waren meine Zähne, die dieses nervtötende Geräusch produzierten. Der Schock saß tief, machte mich apathisch.
Eine Frau setzte sich neben mich. Ihre angenehm weiche, dunkle Stimme drang in mein Bewusstsein, wirkte wie Opium, beduselte meine sonst schon benommenen Sinne, und ein glühender Blick versetzte mich in Trance. Sie nahm mich in die Arme. In gleichmäßigem Rhythmus hörte ich ihren Herzschlag an meinem Ohr. Ich spürte den warmen Körper, die um mich geschlungenen Arme, das beruhigende Streicheln der sanften Hände. Eine mir fremde Melodie summend, wiegte sie mich wie ein Kind hin und her. Sie stellte keine Fragen, wartete, bis ich von mir aus zu sprechen begann. Stockend redete ich, meine Wange immer noch an ihre Brust gepresst. Bebend legte ich meine Arme um sie, klammerte mich an ihr fest, weinte still in mich hinein. Sachte klopfte sie meinen Rücken, löste sich von mir, wischte die Tränen von meinem Gesicht. Die Berührung tat unsäglich wohl.
Lächelnd erhob sie sich, schaute mich prüfend an. In stummer Bewunderung betrachtete ich ihre wundervolle, lange schwarzgekrauste Mähne, die ein ebenmäßiges Gesicht mit unverkennbar eurasischen Zügen umrahmte.
»Rotsöckchen!«, lallte ich völlig überrascht.
»Rotsöckchen? Hm, na ja, wie du meinst, Honey. Dein Denkapparat scheint wieder zu funktionieren. Ich hätte dich lieber unter erfreulicheren Umständen wieder getroffen. Wie fühlst du dich?«
»Besser, danke. Deine Streicheltherapie hat Wunder gewirkt. Warum bist du hier? Ich hätte dich beinahe nicht wieder erkannt, du siehst so anders aus.« Meinem trunkenen Blick war nicht entgangen, wie toll meine Seelentrösterin aussah. Offene Haare, perlgraue Seidenbluse, enge schwarze Jeans und Stiefeletten.
»Ich liebe die Abwechslung, mein Engel. Außerdem muss ich mich berufsbedingt der aktuellen Situation jeweils im Outfit anpassen.«
»Berufsbedingt? Bist du ein Model? Warum nennt mich auf einmal jeder Engel und warum sagst du Honey zu mir? Kennen wir uns von früher?«
»Haha, so viele Fragen! Ein Model bin ich nicht, das wäre mir zu anstrengend. Seit einer halben Stunde weiß ich, dass du Angela Zappa heißt, also liegt der Kosename Engel oder Angel nahe. Und Honey passt einfach hervorragend zu deinem honigblonden Haar, das ist das ganze Geheimnis. Wir kennen uns nicht von früher. Mein Name ist Gzime Berisha. Ich bin Kommissarin der hiesigen Mordkommission und arbeite mit Kevin Stoller zusammen.«
Gzime Berisha, welch ein Klang. Kommissarin der Mordkommission, scholl es wie ein Echo in meinem dröhnenden Schädel. In diesem Augenblick verspürte ich eine Affinität zwischen ihr und mir, die meine Gefühlswelt durcheinander wirbelte. Ihr samtdunkler Blick traf mich mitten in die Seele. Eine heiße Welle unterschiedlichster Gefühle fuhr durch meinen ganzen Körper. Verlegen biss ich auf die Unterlippe, fragte mich, was in mich gefahren war. Am liebsten hätte ich Gzime umarmt, doch ich traute mich nicht, obwohl sie mich ›mein Engel‹ genannt hatte.
»Fühlst du dich in der Lage, mit mir aufs Revier zu kommen, damit ein Protokoll getippt werden kann?« Als ich nickte, fügte sie hinzu: »Spül deinen Mund aus, du riechst etwas streng. Dort ist das Lavabo.«
Wortlos kam ich ihrer Aufforderung nach, fühlte die Hitze der Schamröte in mit hochschießen.
»Deine Tasche hat mein Freund Stoller mitgenommen. Du bekommst die Sachen, die du daraus benötigst vielleicht nachher. Da ist das Telefon, ruf zu Hause an, man macht sich bestimmt schon Sorgen um dich, Angela.«
Halb ernüchtert kam ich auf den Boden der Realität zurück, wischte den Mund gründlich ab und sagte verbittert: »Es wartet niemand auf mich. Ich bin bereit, Gzime, lass uns gehen.«
Auf einmal kam mir in den Sinn, wo ich Stoller gesehen hatte. Er war der Mann, der auf Gzime wartete, als wir im Kaufhaus Tee zusammen tranken.
Etwa zwei Stunden später lenkte Gzime Berisha ihren neutralen Dienstwagen durch die längst zur Ruhe gekommene Stadt. Es war für sie ganz selbstverständlich, mich nach Hause zu bringen. Ich nannte ihr meine Adresse, danach schwieg ich befangen. Die Stille hielt ich aber auch nicht aus. Um etwas zu sagen, fragte ich sie nach der Herkunft des Namens Gzime.
»Mein Vater ist Albaner, meine Mutter Japanerin. Vater hat sich durchsetzt und so heiße ich jetzt eben Gzime Nobuko Berisha und nicht Nobuko Gzime. Meine Eltern leben seit zwei Jahren in Tokio, ich bin dreißig und ledig.«
»Ich bin auch dreißig, und mein Mann wird Vater. Ich habe einen Kiosk und meine Eltern führen ein Verlagshaus in Greben.«
»Was, du bekommst ein Kind und besäufst dich?! Und der Überfall noch dazu! Verflucht, ich hätte darauf bestehen müssen, dass dich der Arzt gründlich untersucht.«
»Quatsch! Meine Exfreundin ist schwanger. In unserem Haus, wo sie mich belogen und betrogen haben, hielt ich es nicht mehr aus und räumte das Feld. Ist auch viel praktischer, gleich am Arbeitsort zu wohnen. Ehrlich gesagt, sind mir die beiden inzwischen schnurzpiepegal. Er ist ein falscher Hund und sie eine blöde Kuh.«
»Will er sie heiraten?«
»Kann schon sein«, knurrte ich gereizt.
Gerne wäre ich mit ihr noch ewig so weiter gefahren, doch schon parkte sie den Wagen vor dem Kiosk. Mir war auf einmal wieder ganz mulmig zumute. Die Angst vor dem Alleinsein schnürte mir die Kehle zu und trieb mir Tränen in die Augen.
»Darf ich dir etwas anbieten, Gzime Nobuko Berisha?«, würgte ich hervor.
»Zu einem Tee sage ich nicht nein. Nach deinem schlimmen Erlebnis lasse ich dich ungern allein, Angela.«
Aufatmend stieg ich aus, ging zum Eingang und machte Licht. Leise drückte Gzime den Wagenschlag zu und folgte mir. Als wir meine Wohnung betraten, fiel mir plötzlich auf, wie armselig, lieblos und unpersönlich ich mein so genanntes Reich eingerichtet hatte. Wäre es nur das gewesen! Dreckiges Geschirr häufte sich im Trog, auf dem Herd und im Wohnzimmer. Zerknitterte Kleider lagen herum und der Staub auf den Ablagen war nicht zu übersehen. Gzime war sensibel genug, mich nicht darauf anzusprechen. Mit fahrigen Bewegungen setzte ich Wasser auf, wusch rasch zwei Tassen ab, äugte nach der Kommissarin, die einen Sessel frei fegte und sich setzte. Als wir das heiße Getränk schlürften, plauderte sie ungezwungen, erwähnte beiläufig, sie teile mit Stoller eine geräumige Dachwohnung im selben Haus, wo das Dojo sei. Gzime streute Informationen ein, die mein angeschlagenes Nervenkostüm noch um ein Quäntchen mehr schwächten. Aber sie meinte, es sei besser für mich, den Tatsachen ins Auge zu sehen.
Am Abend des Überfalls trainierte sie mit Stoller, Schläpfer und einer jungen Kollegin im Dojo, die sich auf die Prüfung des 1. Kyu vorbereitete. Von der Erfahrung ihrer drei Kollegen konnte sie profitieren, die alle bereits Meistergrade zwischen dem 4.-8. Dan erreicht hatten. Am URA-NAGE (Rückwärtswurf) musste die junge Kollegin noch arbeiten, dann war ihr der braune Gurt sicher. Die beiden Frauen gingen duschen, während die Kollegen herumtrödelten und quatschten. Nur deshalb hörten sie die Hilfeschreie. Eine Bande hatte sich darauf spezialisiert, das Geld für Drogen mit Entreißdiebstählen zu beschaffen. Tags zuvor kam es erstmals zu einem ernsten Zwischenfall. Ein Mann wehrte sich energisch, wurde niedergestochen und schwer verletzt. Vermutlich stecke die Tatwaffe in meiner Tasche, erläuterte Gzime, und ich habe unverschämtes Glück gehabt. Niemand hatte damit gerechnet, dass der immer brutaler werdende Süchtige so unverfroren sein könnte, sich sogleich wieder auf Beschaffungstour zu begeben, nachdem er die Kontrolle über sein Tun verloren und beinahe jemand umgebracht hatte. Die Leute von der Drogenfahndung verzweifelten schier, weil sie die wieselflinken Junkies einfach nicht erwischten.
»Was habe ich eigentlich verbrochen, dass Gott mich so bestraft?«
»Du fühlst dich von Gott bestraft«, murmelte Gzime und hob den Blick. »Hast du eine Bibel, Angela?«
»Natürlich.«
»Hast du das Buch der Bücher auch gelesen oder verstaubt es irgendwo im Büchergestell?«
»Ich weiß alles vom Religionsunterricht. Ich bin aber nur reformiert, kann also nicht zur Beichte gehen. Ehrlich gesagt, Gzime, bin ich überhaupt keine Kirchgängerin.«
»Aha, nur reformiert und keine Kirchgängerin. Das erklärt natürlich, dass der liebe Gott für so eine wie dich keine Zeit hat, wo du ja auch keine für ihn opferst. Bibeln sind interessante Geschichtsbücher, voller Fantasie, wie brutale Märchen zu lesen. Ich habe mich mehrere Jahre intensiv mit verschiedenen Religionen, Kulturen und deren Traditionen befasst. Ich bin Atheistin geworden.«
»Du glaubst an gar nichts mehr?«, rief ich erschrocken.
»So möchte ich das nicht ausdrücken. Ich glaube an die Unendlichkeit des Universums und einen Schöpfer, der aber auf keinen Fall für unser Tun verantwortlich ist. Ich glaube an mich selbst, weiß, dass ich für mich selber verantwortlich bin. Ich lasse nicht nur meine Vernunft, sondern auch mein Herz sprechen, aber jedes zu seiner Zeit. Auf einen einfachen Nenner gebracht liegt alles Unvorstellbare, Unentschlüsselte, wie auch das Entschlüsselte und somit Vorstellbare in der Natur, zu der auch wir Menschen, Tiere, unsere Erde und das Universum gehören. Nein, nein, stell jetzt keine Fragen wie warum wird dieser Mensch und nicht jener krank oder ähnlich. Ich werde dich mal mit Alice Denzler bekannt machen. Sie ist meine und Kevins Freundin und lehrt an der hiesigen Universität Philosophie. Jedenfalls kannst du es drehen und wenden, wie du willst, Angela, deine Probleme werden nicht von deinem Gott gelöst. Wie wäre es, wenn du zur Abwechslung einmal deinen Verstand benutzen und eigenständig denken würdest? Dann brauchst du auch den Alkohol nicht mehr. Der Rum stinkt aus deinem Tee wie die Verheißungen und Verwünschungen des von Menschen erfundenen Bibel-Gottes über unfolgsame oder ungläubige Völker.«
Prompt verschluckte ich mich und verschüttete den Rest des heimlich gemixten Gebräus. Ich ließ mir den Rücken klopfen und mich widerstandslos ins Bad bugsieren. Gzime half mir aus den Kleidern, beriet mich beiläufig, wie ich den schönen Pullover wieder sauber kriegen konnte ohne ihn zu ruinieren und erwähnte, dass sie einen beinahe identischen besitze. Jaja, dachte ich, deinetwegen habe ich die horrende Summe ausgegeben und sogar rote Socken gekauft. Wie ich mich schämte vor dieser geduldigen Frau, die so verständnisvoll mit mir umging, mich weder anbrüllte noch ausschimpfte. Dabei hätte ich es verdient, angebrüllt zu werden. Den Verdacht, ihr Bruder könnte der Übeltäter gewesen sein, wagte ich aus Rücksicht auf ihre Gefühle nicht zu äußern. Sie hob mich auf und legte mich in ein kreisendes Karussell. Oder war es mein Bett?
»Gzime, wie geht es deinem Bruder?«, flüsterte ich kaum hörbar.
»Meinem Bruder? Du stehst noch unter Schock, Angel-Baby. Ich frage mich, ob ich dich guten Gewissens allein lassen kann. Was meinst du, wirst du schlafen können?«
Eigentlich war ich froh, dass sie nicht näher auf meine Frage einging. Das bekräftigte mich in der Annahme, dass Rotsock nichts mit der Sache zu tun haben konnte.
»Geh nur, ich bin so kaputt, werde gleich in Tiefschlaf verfallen. Dein Freund wird sich wundern, wo du bleibst. Morgen früh muss ich aufs Kommissariat, ein Phantombild soll gemacht werden. Schließ bitte hinter dir ab und wirf den Schlüssel in den Briefkasten, ich habe noch einen dort auf der Ablage.«
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