Freitagnachmittag kam Gzime auf Stippvisite, freute sich, dass es mir besser ging. Die Angst vor einer weiteren Blamage war größer, als der Wunsch, meine Sinne mit Alkohol zu vernebeln. Einiges, was sie gesagt hatte, war trotz allem in mein Bewusstsein gedrungen. Die Glaubensfrage beschäftigte mich ungemein und ich fragte mich, weshalb überall Kriege sogar heilige! geführt wurden, ohne dass Gott unschuldige Geschöpfe schützte. Gott ließ sinnlose Zerstörung, Verbrechen und grausame Gewalttaten zu, konnte sich nicht gegen den Teufel durchsetzen. Ich bin zu dumm, das alles zu verstehen, dachte ich resignierend. Was mir jedoch umso klarer einleuchtete war, dass mein Selbstvertrauen durch die Sauferei flöten ging.
Wie ich von Gzime erfuhr, wurde das Messer im Polizeilabor gründlich unter die Lupe genommen. Es war die Tatwaffe, mit der am Abend vor dem Angriff auf mich ein Mann verletzt wurde. Die Fingerabdrücke am Griff waren zu stark verwischt, um den Täter ermitteln zu können. Das Phantombild, das unter meiner Regie entstand, war nicht so gut gelungen. Kein Wunder, ich sah in der Dunkelheit nur eine verzerrte Fratze, die schwer zu beschreiben war.
Tags darauf wurde ich überraschend zu einer Identifizierung aufgeboten. Meine Knies schlackerten bedenklich, als ich hinter der großen Scheibe fünf junge Männer sah, die einander sehr ähnlich sahen. Rotsock war auch dabei. Und natürlich trug er rote Socken. Auf ihn zu zeigen würde bedeuten, auch Gzime Berisha in ein schlechtes Licht zu rücken. Auch wenn sie nicht für die Gesetzesübertretungen ihres Bruders verantwortlich gemacht werden konnte, entschied ich mich, den Kopf zu schütteln und die Schultern zu zucken.
Den Selbstverteidigungskurs, den Gzime mir anbot, ließ ich vorerst sausen. Ich wollte mich nicht vor der katzenhaft geschmeidigen Kommissarin blamieren. Dafür nahm ich mir vor, wenigstens etwas für meine Fitness zu tun. Am Montagmorgen raffte ich mich auf und kramte meinen alten Jogginganzug hervor. Ich nahm den Bus nach Nottingen, stieg an der Dorfstraße gegenüber meinem einstigen Heim aus, warf einen gehässigen Blick Richtung Schlafzimmerfenster, senkte den Kopf und eilte vorbei. In wenigen Minuten erreichte ich auf schmalen Wiesenpfaden den Wald. Tief atmete ich die frische Waldluft ein, wischte, ohne meinen Lauf zu unterbrechen, eine hauchfeine Spinnwebe aus dem Gesicht. Der schmale Weg wurde steil, ich kam ins Schwitzen, erreichte keuchend den flachen Platz um den Aussichtsturm. Die Stufen knarrten und quietschten, meine Beine waren schwer geworden. Am Treppengeländer zog ich mich bis zur Plattform hinauf, trat ans Geländer und genoss die Phänomenale Aussicht.
Schnuppernd reckte ich die Nase in den auffrischenden Wind. Es roch nach Frühling. Ein zarthellgrüner Hauch lag über der Landschaft. Ich hörte ein gedämpftes Piepsen, das mich an einen gefangenen Vogel erinnerte, aber es tönte aus meiner Jackentasche. Rasch klaubte ich mein Handy hervor, lauschte einen Moment dem befreit klingenden Trillern. Isolde wollte sich bestimmt nach meinem Befinden erkundigen.
Es war mein Mann Guido.
Er klang, als wäre er eben von einer Walze überfahren worden. Beinahe erweckte sein Jammern Mitleid in mir, doch ich beherrschte mich zu sagen, ich habe mit Sehnsucht auf seinen Anruf gewartet. In seinem trauten Heim hing der Haussegen schief. Cora war nie schwanger gewesen! Sie dachte sich diese niederträchtige Finte aus, um ihn an sich zu binden. Guido schickte Cora zum Teufel, bettelte um Verzeihung. Inständig bat er mich, zu ihm zurückzukehren und uns noch eine Chance zu geben.
Denkste! Entschlossen drückte ich ihn weg und schob mein Handy in die Tasche.
Einem Neuanfang stand nichts mehr im Weg.
Alle Zweifel, die an mir nagten, weil ich glaubte versagt zu haben, verflüchtigten sich. Es war ausgesprochen dumm von mir, die vermeintliche Niederlage im Alkohol zu ertränken. Beschwingt machte ich auf dem Absatz kehrt, trippelte die vielen Stufen hinunter rundherum, rundherum. Mir war ganz schwindlig, als ich den Vorplatz des Aussichtsturms erreichte. Taumelnd ging ich weiter, befreite mich gedanklich vom Ballast der Vergangenheit. Jetzt war ich für eine Scheidung bereit.
Gemächlich trabte ich Richtung Waldhütte. Bald erreichte ich sie und sah jemand, der im offenen Vorraum auf der Eckbank saß. Fröhlich wünschte ich einen guten Morgen, bekam aber keine Antwort. Erst jetzt richtete ich den Blick auf die Gestalt und blieb irritiert stehen. Zwischen dem verfilzten Wuschelhaar glitzerte ein fiebriges Augenpaar aus dem blassen Gesicht. Die Schuhe hatte er von den Füßen gestreift, sodass ich seine roten, verlöcherten Socken sah.
»Was gibt es hier zu gaffen?«, blaffte er mich an.
»Rotsock! Ich bin überrascht, dich hier zu treffen. Wie geht es deiner Schwester?«
Unbeherrscht schrie er: »Wie soll ich wissen, wie es deiner Schwester geht, hä? Zieh Leine und lass mich in Ruhe!«
Seine eigenartige Antwort und Aggressivität verunsicherten mich. Heute sah er wieder einmal wie ein verkommener Gassenjunge aus, verlaust und dreckig. Die vorübergehende Festnahme musste ihn ganz schön aus der Bahn geworfen haben. Und wenn es doch Rotsock gewesen war, der mich am Chlupfsteig überfiel? Prompt bekam ich weiche Knie. Es schien ratsam, ihn nicht noch mehr zu reizen. Wortlos trat ich den Heimweg an. Mir saß die Angst im Nacken. Immer wieder schaute ich mich um, aber er verfolgte mich nicht.
Am Nachmittag trug ich das Geburtstagsgeschenk für meine Mutter auf die Post. Geduldig wartete ich mit meinem Packet in der Schlange vor dem Schalter. Es war sehr still im Raum. Hin und wieder flüsterten Leute miteinander, schoben sich zwei Zentimeter vor, wenn ein Kunde abgefertigt war. Als ich endlich an der Reihe war, legte ich das Packet auf den Tresen, wollte guten Tag sagen, doch ein überlauter Hickser war alles, was ich von mir gab.
»Gesundheit, Frau Zappa«, wünschte die Frau am Schalter grinsend und nahm die Sendung entgegen.
Der Schluckauf wurde immer schlimmer. Verhaltenes Lachen hinter mir steigerte den blödsinnigen Reiz, anstatt ihn zu stoppen. Erneut hicksend bezahlte ich, schenkte Frau Gruber am Schalter ein Lächeln, das durch einen Hickser verzerrt wurde. Rasch raffte ich meine Sachen zusammen und eilte, verlegen auf die nun laut lachenden Leute schielend, hinaus. Nach einer Weile stellte ich fest, dass ich das Packet wieder mitgenommen hatte … Entnervt machte ich kehrt, fand mich bald in der nun fröhlichen Atmosphäre des Postbüros wieder. Bekannte winkten mir zu, gaben mir Ratschläge, wie ich den Schluckauf loswerden konnte und ließen mich an den Schalter vor. Eine Entschuldigung murmelnd, schob ich das Packet Frau Gruber zu und musste nun selber lachen, und da war der Schluckauf plötzlich wie weggefegt.
In dieser Nacht träumte ich von Rotsock. Er hockte mit nackten Füßen auf einem Baumstrunk. Seine verfilzten Zapfenlocken wippten, als er mit einem Messer meinen Namen und ein Kreuz dahinter in die Rinde ritzte. Wie Schmetterlinge gaukelten die roten Socken durch das Blätter- und Nadeldach der Bäume in den blauen Himmel hinauf.
Verschwitzt erwachte ich. Das Misstrauen gegen Rotsock flammte erneut auf. Ich rief mir Gzimes rauchige, beruhigende Stimme in Erinnerung, bis ich den Klang im Herzen vibrieren spürte. Sie wird nicht zulassen, dass mir etwas geschieht, dachte ich und wurde ruhiger. Träge rollte ich mich zusammen und begann zu fabulieren. Ich stellte mir vor, sie liege bei mir im Bett und wir kuschelten uns verliebt aneinander. War ich tatsächlich verliebt in diese Frau?
Angela, du spinnst, sagte ich laut und drehte mich zur Wand. Auf einmal war ich froh, dass Gzime Berisha und Kevin Stoller ein Paar waren. Ich würde mich schon glücklich schätzen, dürfte ich mit der Kommissarin befreundet sein. Am Mittwochabend wollte sie mit ihrem Kevin zu mir zum Nachtessen kommen. Den noch dazwischen liegenden Dienstag würde ich auch noch hinter mich bringen. Mit diesem Gedanken schlief ich ein.
Ich hatte Frühdienst mit Carmen. Wie immer war sie als Erste da, hatte den Kiosk schon eröffnet. Als der größte Andrang der Frühaufsteher vorüber war, alle ihre Getränke, Sandwichs und Zeitungen bekommen hatten, tranken wir Kaffee und hörten Nachrichten im Radio: Ein Drogenhändler wurde mit einem stumpfen Gegenstand niedergeschlagen und ausgeraubt. Der Schlag löste eine Hirnblutung aus, die der Mann nicht überlebte. Die Mordkommission befürchtete einen Racheakt.
Ein kalter Schauer lief mir den Rücken hinunter. Ob wohl einer der Jungs, die ich auf dem Revier hinter der für mich durchsichtigen Scheibe gesehen hatte, der Täter war? Vielleicht gar Rotsock?
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